Nützliches Wissen zur Eingewöhnung Teil 2 – fünf Fehlannahmen einer abgeschlossenen Eingewöhnung

Während der Eingewöhnung werden oft Fehlannahmen getroffen, die eine abgeschlossene Eingewöhnung vermuten lassen. Es handelt sich jedoch häufig um Fehlinterpretationen der kindlichen Signale. Hier eine Zusammenfassung von fünf möglichen Fehleinschätzungen einer abgeschlossenen Eingewöhnung:

1. Das Kind spielt ununterbrochen

Das Kind spielt während der Eingewöhnung beinahe ununterbrochen. Es ist so sehr damit beschäftigt den Raum und die Spielsachen zu erkunden, dass es die Abschiede der Bezugsperson kaum wahrnimmt. Aus diesem Grund springt das Bindungsverhaltenssystem nicht oder kaum an. Das Interesse für das Neue steht in dem Moment im Zentrum und über der Trauer und dem Verlust der Bindungsperson. Man hat das Gefühl, das Kind bräuchte keine Eingewöhnung mehr. 

Das ändert sich jedoch, sobald der Raum ausreichend erkundet wurde und eine erste Langeweile aufkommt. Wenn die Bindungsperson für lange Zeit weg bleibt, kann der Abschiedsschmerz wieder aufflammen.

2. das Kind ist offen, zugänglich und kommunikativ

Die Fachkräfte freuen sich, wie offen, zugänglich und kommunikativ das Eingewöhnungskind ist. Schon vor der Eingewöhnung wird von vielen Seiten vermutet, dass das Kind schnell eingewöhnt sein wird. Dieses offene Verhalten zeigt das Kind allerdings nur, wenn die Bindungsperson (Mutter oder Vater) anwesend ist oder nur für kurze Zeit den Raum verlässt.

Dann kommt die Vermutung auf, die Eingewöhnung würde nicht lange dauern. Man bekommt als Fachkraft schnell den Eindruck, die Eingewöhnung sei fast abgeschlossen.

Der Fokus der Beobachtung in der Eingewöhnung sollte jedoch nicht auf den Momenten liegen, in denen die Mutter oder der Vater mit dabei sind, sondern vielmehr auf den Reaktionen des Kindes, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt. Kann das Kind dann seine offene, kommunikative, zugängliche Art behalten oder wird es verschlossener, gehemmter und spielt weniger?

Diese offenen kommunikativen Kinder sollten über längere Zeit weiter beobachtet werden, um herauszufinden, ob die Eingewöhnung für sie tatsächlich abgeschlossen ist.

3. Die Trauerphase des Kindes setzt später ein

Es gibt Kinder, die reagieren während der Eingewöhnung nur wenig auf die Trennungen von ihren Bezugspersonen. Die Eingewöhnung scheint sehr gut zu laufen. Das Kind kann sich ohne große Widerstände zu zeigen, von seiner Bindungsperson trennen. Die Eingewöhnung scheint schnell zu gehen. Auch wenn die Eltern nach der Trennung wiederkommen, freut sich das Kind und begrüßt sie.

Es kann bei diesem Kind sein, dass der Trauerprozess erst später einsetzt. Vorher augenscheinlich „einfach“ einzugewöhnende beginnen plötzlich viel zu weinen, zu wüten, werden aggressiver, beginnen zu beißen, werden anhänglicher.

Kinder, die eher abrupt eingewöhnt werden, zeigen häufig erst später Gefühle der Trauer so Beller (2002) in seiner Studie zur Eingewöhnung von Kindern. Lies dazu auch gerne meinen Blogartikel: Nützliches Wissen zur Eingewöhnung Teil 1: Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Transitionsforschung : https://www.beduerfnisorientierte-kinderbetreuung.de/nuetzliches-wissen-zur-eingewoehnung-wissenschaftliche-erkenntnisse-aus-der-transitionsforschung

Wenn der Trauerprozess des Kindes erst später einsetzt, kann es unter Umständen Sinn machen, die Eltern nochmal dazuzuholen und die Eingewöhnung zurückzuschrauben. Dazu ist eine auf das Kind und die individuelle Situation abgestimmte Entscheidung zu treffen.

4. Das Kind spielt nicht

Die Eingewöhnung scheint abgeschlossen zu sein, denn das Kind weint nur kurz bei der Übergabe, beruhigt sich dann aber schnell. Oft heißt es, das seien die Kriterien für eine abgeschlossene Eingewöhnung.

Es ist allerdings wichtig, das Kind über den gesamten Tag hinweg zu beobachten. Wenn auffällig ist, dass das Kind..

  1. viel (vor sich hin) jammert
  2. das Kind kaum oder gar nicht spielt
  3. viel schnullert
  4. dauerhaft auf den Arm genommen werden will

… dann ist die Eingewöhnung für das Kind noch nicht abgeschlossen. Es zeigt Stresszeichen, die auf ein erhöhtes Stresslevel hinweisen. Die Eltern sollten darauf hin informiert und wieder dazugeholt werden.

Zum Wohle des Kindes sollte dann eine gemeinsame Lösung gefunden werden zum Beispiel:

  • Eingewöhnung zurückdrehen
  • Krippenbesuch nach hinten verschieben
  • kürzere Trennungszeiten
  • Wenn keine Lösung mit den Eltern gefunden werden kann, das Kind durch intensiven Körperkontakt mit der Krippenerzieherin darin unterstützen den Stress zu regulieren. Das Kind sollte dabei so wenig wie möglich abgesetzt werden. Eine Erleichterung bietet dabei eine Babytrage. Darin fühlen sich die Kinder sicher.

5. Das Kind ist unsicher vermeidend an die Eltern gebunden

Das Kind scheint mit der Eingewöhnung keine Schwierigkeiten zu haben. Die Eltern verlassen den Raum ohne dass das Kind weint. Sie kommen wieder und das Kind spielt einfach weiter ohne die Eltern zu beachten. Es scheint ein Kind zu sein, dass sich problemlos an die Situation anpassen kann. 

Darin liegt jedoch die Tücke. Es kann sein, dass das Kind unsicher vermeidend an seine Eltern gebunden ist. In der Bindungsforschung ist das eine unsichere Bindungsqualität, die sich daran erkennen lässt, dass Kinder trotz innerer Anspannung diese nicht nach außen tragen. 

Zum Beispiel: wenn das Kind in der Eingewöhnung beim Abschied durch die Bezugsperson Angst, Trauer oder inneren Stress verspürt, kann es sie dennoch nicht nach außen tragen. Das Kind versucht, diese negativen Gefühle zu vermeiden, „herunterzuschlucken“. Es hat die Erfahrung gemacht, dass es seine tatsächlichen Gefühle lieber verdrängen sollte.

Man weiß allerdings aus der Bindungsforschung, dass Kinder, die unsicher vermeidend gebunden sind, innerlich am meisten Stress verspüren. Der Cortisolwert im Blut ist sehr hoch obwohl sie nach außen hin wenig gestresst wirken. 

In der Eingewöhnung lässt sich eine unsicher vermeidende Bindungsqualität meist daran erkennen, dass die Kinder beim Abschied der Eltern keine Bindungszeichen zeigen (Weinen, Klammern, Arme hoch, winken o.ä.). Noch deutlicher wird die unsicher vermeidende Bindungsqualität bei der Wiederkehr der Bezugsperson. Das Kind zeigt dann keine Freude über die Wiederkehr, meidet den Blickkontakt zur Bezugsperson, wendet sich eher ab und spielt weiter.

Wenn das Kind unsicher vermeidend gebunden ist, ist es umso wichtiger, dass die Eingewöhnung behutsam und ausgedehnt durchgeführt wird. Die betreuende Fachkraft kann dann die vermuteten Gefühle des Kindes spiegeln und verbalisieren:

“deine Mama geht jetzt. Vermutlich bist du traurig darüber?”

“macht es dir ein wenig Angst wenn dein Papa geht?” 

“das können wir gut verstehen”

“wir passen auf dich auf und trösten dich”

“wenn du magst, darfst du zu mir kommen und ich nehme dich in den Arm”

Eine bedürfnisorientierte kurze Eingewöhnung gibt es auch!

Selbstverständlich kann es auch sein, dass Eingewöhnungskinder und die Bezugspersonen sich gut voneinander lösen können. Das Kind ist offen, fasst schnell Vertrauen zu einer Bezugsperson und trauert kaum beim Abschied von der Bezugsperson. Die Eltern können ebenfalls gut loslassen und hadern kaum mit der Trennung von ihrem Kind. Bei weiterer Beobachtung des Kindes lässt sich feststellen, dass die Trennung auch langfristig für es in Ordnung ist.

Unter diesen Voraussetzungen kann es sein, dass eine Eingewöhnung auch bedürfnisorientiert kurz sein kann!

Wir sollten uns jedoch immer vor Augen halten, dass eine für die Bedürfnisse des Kindes nicht ausreichend gestaltete Eingewöhnung dazu führen kann, dass das Kind häufiger krank ist, viel jammert und es in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird (Grosch/ Schmidt-Kolmer (1979).

Grosch, Ch./ Schmidt-Kolmer, E. (1979): Untersuchungen in der DDR. In: Schmidt-Kolmer, E (Hrsg.): die soziale Adaption der Kindern bei der Aufnahme in Einrichtungen der Vorschulerziehung. Berlin: Volk und Gesundheit.

Beller, K. (2002): Eingewöhnung in die Krippe. Ein Modell zur Unterstützung der aktiven Auseinandersetzung aller Beteiligten mit Veränderungsstress. Frühe Kindheit. 2(5), S. 9-14.


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Nützliches Wissen zur Eingewöhnung Teil 1 – Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Transitionsforschung

Es wird immer noch häufig davon ausgegangen, dass Kinder sich sehr schnell in die Krippe eingewöhnen können. Man hört noch häufig, es wären nur die Eltern, die Angst hätten und nicht loslassen könnten.

Viele Eltern und Fachkräfte sprechen immer wieder voller Stolz darüber, dass Kinder bereits nach kurzer Zeit eingewöhnt seien:

“mein Kind brauchte fast keine Eingewöhnung”

“nach einer Woche war die Lisa schon eingewöhnt”

“der Ben wird nicht lange brauchen. Er ist ein so offenes freundliches Kind”

Es scheint häufig immer noch so zu sein, als würde eine schnelle Eingewöhnung als ein Qualitätsmerkmal der pädagogischen Fähigkeit der Fachkraft und der Charakterstärke des Kindes gesehen werden. Im Umkehrschluss bleibt immer wieder das Gefühl zurück, ein Kind, das lange braucht, sei eher schwierig.

Die Wissenschaft ist sich jedoch einig darüber, dass die Eingewöhnung von Kindern sehr gemächlich, individuell und mit viel Zeit durchgeführt werden sollte.

Was sagt die Kindheitsforschung zur Eingewöhnung?

  • Die Trennung der Kinder von ihren Eltern, die durch eine Eingewöhnung gefordert wird, gilt als der “wichtigste Stressor in der frühen Kindheit” (Griebel/ Niesel, 2016). Das heißt, die Eingewöhnung ist ein bedeutend einschneidendes Erlebnis für ein Kind, das mit Stress verbunden ist.
  • Der Eintritt in eine Kindertagesstätte wird für viele Kinder als belastend erlebt (Ahnert, 2004).
  • Die Trennung von vertrauten Bezugspersonen erzeugt bei Kindern einen deutlichen Anstieg des Stresshormons Cortisol (Ahnert, 2004). Das heißt, die Kinder sind nachweislich deutlich Stress belastet während der Eingewöhnung. Auch wenn die Stressbelastung nicht durch äußere Merkmale gesehen werden konnte, so konnte sie in Cortisolmessungen nachgewiesen werden.
  • Die Wiener Krippenstudie zeigt, dass die Eingewöhnung für Kinder mit großen emotionalen Belastungen verbunden ist. “So drohen Kinder von belasteten Gefühlen der Angst, des Verlorenseins, der Verzweiflung oder auch der Wut überschwemmt zu werden, ohne eine Möglichkeit zu haben, sich von diesen Gefühlen zu befreien” (Datler/ Hover-Reisner/ Fürstaller, 2010, S.161). Kinder sind also mit einer Achterbahn der Gefühle konfrontiert. Sie können sich ohnmächtig, hilflos, allein gelassen und verloren fühlen. Sie haben keine Möglichkeit zu überblicken, wann die Bezugsperson wiederkommt, wann Erleichterung eintritt.
  • In der Wiener Krippenstudie wird auch deutlich, dass die Dauer der Eingewöhnung in einem viel größeren Umfang sein müsste als bisher gedacht, um den individuellen Bedürfnissen der Kinder und Eltern gerecht zu werden (Datler/ Hover-Reisner/ Fürstaller, 2010).
  • Abrupt eingewöhnte Kinder zeigen in den ersten 18 Tagen weniger Stress und negative Gefühle als Kinder, die gemächlich eingewöhnt wurden. Grund dafür ist, dass allmählich eingewöhnte Kinder mehr Möglichkeiten hatten, sich aktiv mit dem Trennungsprozess auseinanderzusetzen. Abrupt eingewöhnte Kinder waren hingegen in ihrem Gefühlsausdruck gehemmter. Langfristig weinten jedoch die allmählich eingewöhnten Kinder seltener als abrupt eingewöhnte Kinder. Sie ließen sich zudem besser trösten und zeigten weniger Unwohlsein (Beller, 2002). Das bedeutet, je langsamer ein Kind eingewöhnt wird, desto mehr Möglichkeit hat es, die Bandbreite an aufkeimenden Gefühlen zu durchleben und zu verarbeiten. Bei guter Begleitung und ausreichender Tröstung zeigen Kinder der langsamen Eingewöhnung später dann weniger Stimmungsschwankungen und sind stabiler.
  • Eine für die Bedürfnisse des Kindes nicht ausreichend gestaltete Eingewöhnung kann dazu führen, dass das Kind häufiger krank ist, viel jammert und es in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird (Grosch/ Schmidt-Kolmer (1979). Die Art der Eingewöhnung wirkt sich folglich auf die Gefühls- und Gesundheitslage eines Kindes in der Einrichtung aus. Wenn man sich bei der Eingewöhnung mehr Zeit lässt, wird das Kind später weniger Jammern, Weinen,aggressiv sein und ist seltener krank.

Es wird also deutlich, dass die Eingewöhnung eines Kindes nicht mal eben so nebenbei zu bewältigen ist. Kinder und Eltern brauchen Raum, Zeit, viel Verständnis und Zuwendung, um sich auf die neue Situation einstellen zu können. Die Trennung zwischen Mutter und Kind oder Vater und Kind sollte individuell, behutsam und mit viel Zeit gestaltet werden.

Dabei stehen die Bedürfnisse des Kindes aber auch der Eltern im Zentrum der Aufmerksamkeit

Literaturangaben

Ahnert, L. et. al. (2004): Transition to Child Care: Association With Infant-Mother Attachement, Infant Negative Emotion and Cortisol Elevation. In: Child Development. 75, S. 639-650.

Beller, K. (2002): Eingewöhnung in die Krippe. Ein Modell zur Unterstützung der aktiven Auseinandersetzung aller Beteiligten mit Veränderungsstress. Frühe Kindheit. 2(5), S. 9-14.

Datler, W., Hover-Reisner, N., Fürstaller, M. (2010): Zur Qualität von Eingewöhnung als Thema der Transitionsforschung. Theoretische Grundlagen und forschungsmethodische Gesichtspunkte unter besonderer Bezugnahme auf die Wiener Krippenstudie. In: BeckerStoll, F., Kalicki, B., Berkic, J. (Hrsg.): Bildungsqualität für Kinder in den ersten drei
Lebensjahren. Cornelsen: Berlin, 158-167

Griebel, W. /Niesel, R. (2016): Übergänge verstehen und begleiten. Transitionen in der Bildungslaufbahn von Kindern. Berlin: Cornelsen.

Grosch, Ch./ Schmidt-Kolmer, E. (1979): Untersuchungen in der DDR. In: Schmidt-Kolmer, E (Hrsg.): die soziale Adaption der Kindern bei der Aufnahme in Einrichtungen der Vorschulerziehung. Berlin: Volk und Gesundheit.


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die Bedürfnisse des Menschen – eine Übersicht

Um in der Kinderbetreuung bedürfnisorientiert arbeiten zu können, kann es hilfreich sein, sich die wichtigsten Bedürfnisse eines jeden Menschen nochmal vor Augen zu führen.

Mit dem umfangreichen Themenkomplex Bedürfnisse des Menschen haben sich bereits mehrere Wissenschaftler auseinandergesetzt. Die bekanntesten sind: A. Maslow, T.B. Brazelton und M.B. Rosenberg. In Anlehnung an ihre Konzepte habe ich nachfolgend die wichtigsten Bedürfnisse des Menschen zusammengetragen.

Alle drei Fachleute sind sich darüber einig: wenn der Mensch sich einen oder mehrere Bedürfnisse über lange Zeit nicht erfüllen kann, wird er unglücklich oder krank. Bei bestimmten Bedürfnissen kann die nicht Erfüllung sogar zum Tod führen.

1. Physiologische Grundbedürfnisse: jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Schlaf, Essen, Trinken, auf Toilette gehen, Gesundheit und Sexualität

2. Bedürfnis nach Beziehung: jeder Mensch braucht für sein Wohlbefinden beständige liebevolle Beziehungen. Bindung ist eines der grundlegendsten Bedürfnisse, die wir als Menschen haben. In unseren Beziehungen finden wir Schutz, Sicherheit und eine vertrauensvolle Person, die uns hilft, wenn es uns nicht gut geht. Wir können uns sicher sein, dass sie uns respektvoll behandelt, uns vertraut und uns unterstützt.

3. Bedürfnis nach Sicherheit: Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach körperliche Unversehrtheit, Sicherheit und Schutz. Wir brauchen die Gewissheit in einer behaglichen Atmosphäre angstfrei sein zu dürfen

4. Bedürfnis nach Kontakt und Zugehörigkeit: wir Menschen sind „Herdentiere“. Wir suchen den Kontakt zu unserer sozialen Gruppe und wollen ein fester Bestandteil der Gruppe sein. Um uns wohl zu fühlen, brauchen wir ein Gefühl von Nähe, Liebe, Zusammensein und Gemeinschaft mit anderen. Freundschaften machen uns glücklich. Wenn wir mit Menschen zu tun haben, die ähnliche Interessen verfolgen, wir etwas mit ihnen teilen können, erfüllt das eines unserer wesentlichen Bedürfnisse.

5. Bedürfnis nach Erholung: nach Anstrengung, Stress oder vielen Eindrücken haben wir das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung. Wir brauchen zwischendurch freie Zeit, die Möglichkeit etwas selbstbestimmt zu tun, sich körperlich und geistig „aufzutanken“ oder alleine zu sein. Menschen haben das Bedürfnis nach Urlaub und nach Ferien. Jeder Mensch nutzt andere Strategien, um sich zu entspannen.

6. Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen: Menschen suchen nach Kontinuität. Sie nutzen Rituale, um ihr Leben zu strukturieren. Gleichbleibende Abläufe können uns Halt geben. Wir haben das Bedürfnis, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu erfahren und zu verstehen.

7. Bedürfnis nach Autonomie: Wir Menschen wollen Erfahrungen machen, raus in die Welt, uns verwirklichen, unsere Potenziale entfalten, selbstbestimmt sein. Wir wollen uns ausdrücken und uns entwickeln. Dazu brauchen wir Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen, die für uns und unsere Kompetenzen passend sind. Wir wollen Verantwortung übernehmen und so leben, wie wir möchten. Wir wollen uns selbst Ziele stecken, Träume entwickeln und uns selbst Werte wählen, die für uns passen. Wir brauchen das Recht auf Individualität, Freiräume für schöpferisches Arbeiten und Kreativität. Wir brauchen die Autonomie, um authentisch leben zu können.

8. Bedürfnis nach Anerkennung: Wir suchen danach, Anerkennung für unsere Leistung zu bekommen. Wir wollen wichtig sein, wertvoll sein, eine Geltung haben. Wir suchen nach Zustimmung und Resonanz. Anerkennung sollte nicht mit Belohnung verwechselt werden.

9. Bedürfnis nach Spiel: der Mensch hat das Bedürfnis nach Spiel, nach freiem, zweckfreiem Tun.

10. Bedürfnis nach Feiern und Spiritualität: wir Menschen wollen Freude erleben, lachen und die Schönheit des Lebens genießen. Wir haben das Bedürfnis über philosophische Fragen nachzudenken, die mit unserem Leben zu tun haben. Wir wollen beispielsweise darüber nachdenken, wie Leben entsteht oder was der Tod ist. Wir wollen uns mit den Themen Abschied Übergänge, Frieden und Glaube auseinandersetzen.

11. Bedürfnis nach Empathie: nach Rosenberg haben wir ein Bedürfnis nach Empathie. Das bedeutet, wir suchen nach einem Gegenüber, das uns versteht, sich in uns hineinfühlen kann, uns sieht und hört. Wir suchen danach, Verständnis und Wertschätzung von unserem Gegenüber für unsere Gefühle, für unser Handeln zu erhalten. Wir wünschen uns Respekt und Akzeptanz.

12. Bedürfnis nach Würde und Sinn: wir wollen uns in unserem Sein angenommen fühlen und uns selbst als wertvoll betrachten. Wir wollen in unserem Tun einen Sinn erkennen, einen Beitrag zum großen Ganzen leisten, etwas bewegen und unser Tun als bedeutend erleben. Der Mensch möchte gebraucht werden.

  • Brazelton, T. Berry, Greenspan, Stanley I. (2002): Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern. was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein. Weinheim [u.a.]: Beltz.
  • Maslow, A. (1943): A theory of human motivation. In: Psychological Review, 50(4), 370-396
  • Rosenberg, Marshall, B. (2016): Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens.


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Umgang mit der Wut der Kinder in der bedürfnisorientierten Kinderbetreuung

Wütend ist jeder Mensch das ein oder andere Mal. Die Wut gehört als Gefühl genauso zu uns wie die Trauer, die Freude und die Angst. Die Frage ist nur, ob wir eine Wahrnehmung für diese Wut haben, merken, wann sie in uns aufsteigt und ob wir wissen, was sie uns sagen will.

Zuerst beginnt das Herz zu klopfen, der Magen verkrümmt sich und das Gefühl steigt erst langsam, dann immer schneller in uns auf. 

Wenn wir diese Zeichen nicht spüren, platzt die Wut zu einem späteren Zeitpunkt geballt aus uns heraus und wir wissen nicht mehr, wo kam die Wut denn genau her? Es ist schwer herauszufiltern, was genau die Auslöser waren.

Wut rechtzeitig wahrnehmen

Wenn wir es schaffen rechtzeitig zu merken, dass wir wütend werden, kann das oft verpönte Gefühl der Wut unter Umständen sehr nützlich sein.

Es zeigt, mir geht es nicht gut, irgendwas stimmt hier nicht, ich gehe über meine Grenze, jemand anders geht über meine Grenze, ein Bedürfnis ist nicht ausreichend erfüllt.

Auf dieser Basis habe ich dann die Möglichkeit, für mich eine persönliche Lösung zu finden, die dazu beiträgt, dass ich mein inneres Gleichgewicht wiederfinden kann. 

Ich gehe folglich verantwortlich mit meinem Gefühl um, bin nicht von Schuldgefühlen geplagt, muss nicht in den Kampf, die Aggression oder die Resignation gehen. 

Umgang mit der Wut der Kinder in der bedürfnisorientierten Kinderbetreuung

Dieser Umgang mit Wut ist ein wichtiger Baustein der Bedürfnisorientierten Kinderbetreuung. Wir Fachkräfte können die Kinder darin unterstützen, ihre Wut wahrzunehmen, die Ursachen für sie herauszufinden und gemeinsam mit ihnen Lösungsstrategien zu entwickeln. 

1) Wahrnehmung der Wut

Wir Fachkräfte begleiten die Kinder in der Wahrnehmung ihrer Wut, machen sie darauf aufmerksam: 

“schau mal, du bist gerade wütend”, 

“merkst du, wie sich das anfühlt?” 

“ein Groll steigt langsam in deinem Bauch empor oder wie fühlt sich das genau bei dir an?” 

2) Ursachen für die Wut ergründen

Wir können den Kindern helfen, die Ursache für ihre Wut und das Bedürfnis dahinter herauszufinden und zu verstehen. Sie schulen dadurch ihre Wahrnehmung für die Entstehung ihrer Wut.

“achso, du wolltest auch die Schaufel haben, verstehe”

“der Benni hat dir das Laufrad weggenommen, das macht dich so wütend”

“verstehe, du hast eine tolle Sandburg gebaut und die ist jetzt kaputt?”

 

3) Lösungsstrategien mit dem Kind entwickeln

Im dritten Schritt kann man gemeinsam mit dem Kind eine Strategie erarbeiten, wie es sich sein unbefriedigtes Bedürfnis erfüllen kann. 

“hast du eine Idee, wie du auch so eine Schaufel bekommen kannst?

“magst du Lara mal fragen ob du die Schaufel auch mal haben kannst?”

“du würdest dem Jan gerne sagen, dass du wütend bist weil er deine Sandburg kaputt gemacht hat?” “Magst du zu ihm hingehen?” Soll ich mitkommen?”

Umgang mit Wut als wichtige Sozialkompetenz

Durch diese drei Schritte lernt ein Kind, dass Wut gut ist und nichts bedrohliches. Es lernt, dass es seine Wut nicht wegschieben oder unterdrücken muss. Es lernt, dass es einen Weg gibt, das Gefühl konstruktiv zu nutzen. Es lernt, seine Wut rechtzeitig wahrzunehmen, ihren Ursprung zu verstehen und eine Lösung für seine Bedürfnisse, die hinter der Wut stehen, zu finden. 

Der Umgang mit Wut ist eine äußerst wichtige Sozialkompetenz, die Kinder bereits im Kindergartenalter lernen können. Denn Wut hilft uns für unsere eigenen Bedürfnisse einzustehen. Wir können ihre Energie nutzen um „Ja“ zu sagen, „Nein“ zu sagen, „bleibe“ zu sagen oder „geh weg“ zu sagen. Wir können die Wut als Motor unserer inneren Bedürfnisse verstehen und nutzen. Unausgelebte Wut führt hingegen dazu, dass wir traurig werden oder sogar depressiv (Deutschlandfunk Kultur).

Manche Kinder sind scheinbar nicht wütend

Manche Kinder zeigen keine Wut, so scheint es häufig. Das liegt allerdings nicht daran, dass sie nicht wütend sind, sondern dass sie keine Platftorm erhalten, auf der diesem negativen Gefühl Raum gegeben wird. Kinder merken schnell, bei wem Wut erwünscht ist und bei wem nicht. Sie passen sich an, schlucken ihre Wut runter, entfernen sich von sich selbst.

Zu oft erlebe ich es noch in Einrichtungen, dass die Wut der Kinder runtergespielt, nicht ernst genommen wird, nicht genutzt, überspielt oder unterdrückt wird. Ich höre noch viel zu oft die Sätze:

“jetzt beruhig dich mal”

“der bockt schon wieder”

“unser Wutzwerg mal wieder”

“komm wir schicken den Ziegenbock raus”

“und da fliegt die Wut aus dem Fenster”

Damit wird die Wut der Kinder nicht ernst genommen. Diese Sätze haben immer die gleiche Botschaft:

„wir wollen die Wut hier nicht haben“ „tue etwas, damit du nicht mehr wütend bist“.

Verfolgen wir jedoch unbewusst oder bewusst als einziges Ziel, irgendwie die Wut der Kinder wegzuschieben, weg zu bekommen, hat das Kind wenig Möglichkeit sie zu spüren und für sich etwas über sich zu lernen. Denn wie soll ein Kind, das seine Wut nicht zeigen durfte, lernen, wie es mit ihr umgeht? Kinder unterdrücken folglich ihre Wut und entwickeln womöglich bei aufkommender Wut unbewusst Schuldgefühle.

Kinder mit ihrer Wut alleine lassen

In der Wut der Kinder haben wir oft das Bedürfnis zu flüchten. In uns steigt der Fluchtreflex aus dem Stammhirn empor und wir schaffen es nicht körperlich präsent und emotional in Verbindung mit dem Kind zu bleiben.

Kinder mit ihrer Wut alleine zu lassen, empfinden diese wie eine Bestrafung (s. Quelle)

Wenn sie wütend werden brauchen sie unsere Präsenz, das Gefühl, wir lassen sie nicht im Stich. Auch wenn sie wütend werden sind wir für sie da. Sie brauchen das Gefühl ich werde auch wahrgenommen, angenommen, respektiert und toleriert, wenn die Wut in mir aufsteigt. Es ist jemand da, der mich tröstet und bei mir ist. Das spendet Trost und verringert die Angst vor der nächsten Wut.

Passive Aggressivität im Erwachsenenalter

Wenn Kinder lernen, dass ihre Wut nicht willkommen ist, zeigen sie diese später im Erwachsenenalter häufig in passiv aggressiver Form. Sie haben verinnerlicht,

“offen sollte ich meine Wut lieber nicht zeigen. Das hat negative Konsequenzen für mich”.

Ihre passive Aggressivität zeigt sich beispielsweise im chronischen zu spät kommen, Augen rollen, körperlich wegdrehen, Herabwürdigung des anderen,  Ausweichen von Konfliktgesprächen, Intrigen spinnen, Ärgern, sich selbst schlecht reden uvm. Sie wissen einfach nicht, wann wurde ich warum wütend und wie kann ich meine Wut in ein konstruktives Handeln umwandeln.

Die Wut ist bei uns Menschen also da. Die Frage ist nur, wie gehen wir mit ihr um? Was lernen wir aus ihr? Erlauben wir ihr zum Ausdruck zu kommen und sie als Zeichen für uns selbst wahrzunehmen.

Heißen wir sie in den Betreuungseinrichtungen also jeder Zeit willkommen. Lernen wir gemeinsam mit den Kindern, wie wir sie feiern und für uns nutzen können.

„Juhuuu, wir sind wütend!“ „Wut ist etwas tolles!“

Begleiten wir die Kinder in der Kinderbetreuung darin bedürfnisorientiert ihre Wut zu verstehen. Das ist die beste Vorbereitung auf ein glückliches, verantwortungsbewusstes Leben.

Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/emotionsforschung-wer-wut-unterdrueckt-kann-depressiv-werden.976.de.html?dram:article_id=466223 (Letzter Zugriff: 19.01.2020)


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Die Morgenkreis-Falle – für manche Kinder sind Morgenkreise eine Qual!

der Morgenkreis ist doch das A und O einer Kita! In jeder Kita werden Morgenkreise durchgeführt. Hat man das nicht schon immer so gemacht?! Kinder brauchen Rituale, Struktur sonst können sie sich nicht orientieren, fühlen sich nicht sicher. Ist das wirklich so?

Nein. All das sind Glaubenssätze, die ich schon oft zum Thema Morgenkreis gehört habe.


Ein Morgenkreis kann wirklich etwas Schönes sein … FÜR MANCHE KINDER

Ein Morgenkreis kann wirklich den Tag strukturieren
… FÜR MANCHE KINDER

Ein Morgenkreis kann wirklich etwas beinhalten, bei dem man etwas lernen kann
… FÜR MANCHE KINDERER

Ein Morgenkreis kann wirklich etwas interessantes sein
… FÜR MANCHE KINDERER

Ein Morgenkreis kann wirklich Spaß machen … FÜR MANCHE KINDER

…ABER lange nicht für ALLE KINDER!
Für manche Kinder ist der Morgenkreis eine QUAL. Sie müssen still sitzen obwohl sie längst ihre Idee von heute Morgen umsetzen wollen. Sie müssen still sitzen obwohl sie den inneren Drang haben das Spiel von gestern mit ihrem Freund weiterzuspielen. Sie sollen bei etwas zuhören, was sie überhaupt nicht interessiert. Sie sollen etwas lernen, das sie gerade nicht lernen wollen. Sie können nicht ruhig sitzen, sie können nicht zuhören, sie wollen nicht zuhören, sie denken schon die ganze Zeit an ihre Ritterburg im anderen Raum, an ihr Feenschloß im Garten oder ihren aufwendigen Papierdrachen im Atelier.


Sie werden folglich mehrfach ermahnt, werden umgesetzt, werden aus dem Zimmer geworfen. Und jetzt? Na das ist ja ein toller Morgen, schon jetzt eine miese Stimmung. Und das Kind bleibt zurück mit viel ÄRGER, FRUST und WUT. Am Ende sind alle entnervt, die Fachkräfte, das betroffene Kind und die anderen Kinder. Na ob das wirklich noch ein schöner Tag wird? Und das, obwohl der Morgenkreis doch eigentlich dazu da sein soll, den Tag schön zu beginnen oder?


Gibt es vielleicht auch eine andere Möglichkeit den Tag schön zu beginnen?Wie gestaltet ihr den Morgenkreis bedürfnisorientiert? Wie gestaltet ihr den Morgenkreis individuell?


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“Das macht man doch nicht” – aggressives Spiel unter Kindern

Kennt ihr diese Situation? Ein fünfjähriger Junge rammt mit dem Laufrad ein zweijähriges Mädchen auf einem Dreirad. Das Mädchen wird bei jedem Aufprall durchgeschüttelt. Es lacht dabei immer wieder laut auf. Eine Fachkraft schimpft mit dem größeren Kind und ermahnt es damit aufzuhören “das macht man nicht Tim”. Der Junge schaut erschrocken zur Erzieherin, dreht sich nach kurzer Zeit wieder um und rammt das Kind erneut. Nun läuft die Fachkraft mit wütendem Schritt auf den Jungen zu und nimmt ihm forsch das Laufrad weg. Tim steht etwas betröppelt da. 

Was ist passiert?

Die Fachkraft empfindet das Auffahren vermutlich als für sie selbst unangenehm, ihr würde das evtl. nicht gefallen, wenn sie das Kind wäre. In ihr laufen blitzschnell innere Stimmen ab, die ihr sagen: “das macht man doch nicht”. “Rammen ist unerhört”, “aggressiv”, “wenn der Junge das noch macht wenn er größer wird, bin ich vielleicht daran Schuld weil ich ihn nicht erzogen habe”. Während dieser unbewusst sorgenvollen Vermutungen, verliert sie den Blick für die tatsächlichen Bedürfnisse der Kinder und handelt schlicht aus ihrem ersten Impuls heraus, der sich ihrer naheliegendsten Handlungsstrategien bedient. Sie greift ein, “das kann ich so nicht durchgehen lassen!”.

Man kann ihr dieses Vorgehen nicht vorwerfen, denn sie hat getan, was sie tuen konnte, sie hat ihr bestes gegeben.

Zurück bleiben zwei Kinder im luftleeren Raum

Den Kindern hingegen wurde damit Unrecht getan und zwar nicht nur Tim sondern auch dem Mädchen. Beide hatten sehr viel Freude an dem Spiel und zeigten keinerlei Anzeichen, dass ihre Grenzen überschritten wurden, ganz im Gegenteil! 

  • zurück bleibt ein Junge, der vermutlich traurig ist weil er ein lustiges Spiel nicht weiter verfolgen konnte und das obwohl Lachen das Gesündeste der Welt ist.
  • zurück bleibt ein Junge, der vermutlich verwirrt ist weil er nicht versteht, warum er mit dem Rammen aufhören sollte, obwohl das Mädchen sehr viel Spaß gezeigt hatte.
  • zurück bleibt ein Junge, der vermutlich verärgert ist weil er nun sein geliebtes Laufrad weggenommen bekommen hat. Er ist zudem verwirrt, da es doch immer wieder heißt, er selbst solle nichts wegnehmen.
  • zurück bleiben zwei Kinder, die aus einem wunderbaren Spiel gerissen wurden und sich nun im luftleeren Raum bewegen. Sie sind auf der Suche nach einem neuen für sie passenden Spiel, bei dem sie etwas lernen können. Bis dahin sind sie erstmal damit beschäftigt innerlich mit ihrem Frust, ihrer Enttäuschung und ihrer Wut umzugehen.

Ich stelle mir zu der Situation noch eine Frage: wäre die Fachkraft auch eingeschritten, wenn das kleine süße Mädchen den “Raufbold” Tim gerammt hätte? Wir folgen bei sanktionierendem Verhalten oft unseren inneren Vorurteilen. “Der Junge kann das schon ab aber das kleine süße zerbrechliche Mädchen doch nicht. Ihr muss ich helfen!”

Was hätte man tun können?

  • Die Situation aus der Ferne beobachten. Die verbalen und mimischen Ausdrücke der Kinder verraten, ob ihre Grenze noch gewahrt ist.
  • Selbsteinfühlung: wie geht es mir dabei, was empfinde ich? Übertrage ich mein ungutes Gefühl auf die Kinder? Ist nur meine Grenze überschritten oder auch die der Kinder?
  • Auch unser Bedürfnis spielt in der bedürfnisorientierten Kinderbetreuung eine wichtige Rolle. Wenn ich Angst habe, sie könnten sich verletzen oder die Spielgeräte könnten dabei kaputt gehen, darf ich einschreiten. Ich könnte dann sagen: “oh ich sehe, ihr zwei wollt gerade ineinander fahren. Wisst ihr, ich habe Sorge, dass dabei die Fahrzeuge kaputt gehen. Helft mir mal, vielleicht könnt ihr noch mit etwas anderem ineinander fahren? Oder laufen?

Wir wissen schließlich nicht, was bei dem Spiel die Lernabsicht der Kinder war! Auch ein vermeindlich “aggressives” Spiel kann durchaus lustvoll für Kinder sein. Mehr als sonst sollte dabei darauf geachtet werden, dass die Grenzen aller Beteiligten gewahrt bleiben.

„Justus, achtest du bitte immer darauf, ob Greta dieses Spiel noch gefällt“


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“Bevor ihr euch streitet bekommt keiner das Spielzeug” – Umgang mit Konflikten unter Kindern

“Bevor ihr euch streitet bekommt keiner das Spielzeug”

Wer kennt diesen Satz nicht?! Er wird in Einrichtungen beinahe inflationär verwendet um Streitsituationen zwischen Kindern zu schlichten. Die Fachkraft nimmt den beteiligten Kindern daraufhin das Spielzeug aus der Hand und sieht den Konflikt als geklärt. 

Was ist jedoch mit den Kindern? Ist für sie der Konflikt auch geklärt? Was sind die FOLGEN dieses Satzes und der daraus resultierenden Handlung der Fachkraft? 

Es bleiben zwei Kinder zurück…

… die bemerken, dass Streit etwas UNANGENEHMES ist, etwas nicht gewolltes ist und, dass Streit möglichst schnell geklärt werden muss. 

… die bemerken, dass die Klärung ihres Streits nicht in ihrer MACHT steht und von außen durch einen Erwachsenen geklärt werden muss. Sie geben die Verantwortung ab.

… die die Chance verpasst haben, zu LERNEN, wie man konstruktiv streitet und eine gemeinsame Lösung herbeiführen kann

… die trotzdem noch WÜTEND und sauer aufeinander sind, die nun alleine mit ihren Gefühlen umgehen müssen. Die negativen Gefühle entladen sich vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt z.B. wenn ein erneuter Konflikt aufkommt.

… die nicht verstehen, warum sie anderen Kindern nichts WEGNEHMEN sollen, die Fachkraft genau das aber selbst tut – ihnen das Spielzeug wegnimmt.

… die gerade noch in ein Spiel VERTIEFT waren, dass ihnen ein gutes Gefühl gab, ein Flowereleben, die allerdings nun aus ihrem Spiel gerissen sind und im luftleeren Raum ohne das wichtige Spielzeug schweben.

… die ihr eben angestrebte LERNZIEL nicht weiterverfolgen können und ein neues Spiel (Lernziel) finden müssen.

Wenn durch das Agieren der Fachkräfte immer wieder suggeriert wird, dass Konflikte SCHNELL und von AUßEN geklärt werden, wie sollen Kinder dann lernen, Konflikte konstruktiv zu lösen? Brauchen Kinder nicht eigentlich aber genau das, um in der Welt bestehen zu können?

Brauchen sie nicht eigentlich ein Gegenüber, das dabei UNTERSTÜTZT, den Konflikt zu lösen? Brauchen sie nicht eigentlich einen Partner, der vormacht, wie man gewaltfrei Lösungen finden kann? Brauchen sie nicht eigentlich Vorbilder, die ihnen zeigen, Konflikte sind gut, aushaltbar, man kann an ihnen lernen, man kann sie bewältigen und man kann Lösungen finden, die für alle Beteiligten annehmbar sind. 

Um in der WELT zu bestehen, brauchen unsere Kinder das Wissen, Konflikte kommen immer und überall vor wo Menschen aufeinandertreffen. Sie sollten erfahren, dass Konflikte normal sind, Konflikte müssen nicht schnell beendet werden, Konflikte sind bewältigbar, man muss keine Angst davor haben, Konflikte können so gelöst werden, dass keiner als Verlierer hervorgeht.

Es gibt eine STUDIE, die zeigt, dass Kinder ihr Spiel am ehesten unterbrechen, wenn Erwachsene frühzeitig in einen Konflikt eingreifen und ihn klären (Singer / Hännikäinen, 2002) Es ist also wichtig Konflikte nicht sofort zu unterbinden und sofort zu klären. Denn dadurch sendet man den Kindern die Botschaft: “Konflikte sind nicht erwünscht”. Es ist wichtig, den Kindern einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem sie selbst versuchen können den Konflikt zu lösen. Sie brauchen die Möglichkeit Erfahrungen zu sammeln, welches eigene Handeln sie weiterbringt und welches nicht. Das ist doch eigentlich eine erfreuliche Nachricht für alle Fachkräfte. Ihr könnt euch zurücknehmen.

Wenn die Kinder allerdings selbst nicht in der Lage sind ihren Streit beizulegen, kann die  Fachkraft ihre HILFE ANBIETEN. Gewöhnlicherweise wird der Bedarf an Hilfe in drei Punkten deutlich:

  • wenn die Fachkraft direkt angesprochen wird und um Hilfe gebeten wird
  • wenn ein Kind hilfesuchend durch den Raum schaut
  • wenn Kinder handgreiflich oder aggressiv werden, sollten die Fachkräfte einschreiten weil der Konflikt einerseits nicht mehr konstruktiv ausgetragen wird und andererseits die Strategie eine gesellschaftlich nicht anerkannte ist.

Lehnen alle beteiligten Kinder allerdings das Angebot der Unterstützung ab, sollte das respektiert werden (auch wenn sie handgreiflich sind). Es sollte dabei jedoch niemand Unbeteiligtes zu Schaden kommen, gestört werden oder etwas dabei kaputt gemacht werden. In diesem Fall müsste die Fachkraft auch einschreiten weil unter Umständen die Grenzen anderer nicht gewahrt werden können.

Wenn nun Hilfe benötigt wird, kann man die Situation mit den beteiligten Kindern reflektieren, das Geschehene Revue passieren lassen, die Gefühle benennen, vermitteln und moderieren. 

Wenn zwei Kinder sich z.B. um einen Ball streiten, könnte man wie folgt vorgehen: 

  1. Situation beschreiben: du wolltest den Ball haben richtig (das eine Kind)? Und du wolltest auch den Ball haben kann das sein (andere Kind)? Wenn beide zustimmen kann man zum nächsten Schritt gehen, ansonsten weiter nachfragen und dabei unterstützen die Situation zu reflektieren. Die Kinder können auch nacheinander ihre Sichtweise schildern und wir Erwachsenen moderieren.
  2. Gefühle benennen: “du hast dich wahrscheinlich sehr geärgert weil du unbedingt mitspielen wolltest oder? Nein? Du wolltest alleine mit dem Ball spielen? Verstehe”. “Und du (anderes Kind) bist sehr wütend weil Karl dir den Ball weggenommen hat oder?” “Ja…”
  3. Lösungsorientierung: “Mh, was können wir da denn jetzt machen?” Je nach Alter die Kinder in die Lösungsfindung einbeziehen. Kinder haben oft sehr kreative Ideen, wie man Konfliktsituationen lösen kann. Falls keine Ideen vorgeschlagen werden, kann man selbst Ideen vorschlagen: “vielleicht könnt ihr zusammen spielen” oder “wie wäre es wenn ich auf die Uhr schaue und erst der eine für 5 Minuten mit dem Ball spielt und dann der andere?” Wichtig ist, dass beide Parteien mit der Lösung einverstanden sind. Erst dann ist die Konflikt Besprechung beendet.

Aus dieser Art der Konfliktmoderation lernen die Kinder eine Strategie, wie sie Konflikte lösen können, die sie womöglich noch ihr ganzes Leben nutzen können.

Singer, E. / Hännikäinen, M. (2002): The teacher’s role in territorial conflicts of two to three year old children. In: Journal of
Research in Childhood, 17. S 5-18.


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