Ablenkung macht die Gefühle nicht weg!

In emotional angespannten Situationen verspüren wir Erwachsenen immer wieder den tiefen Drang, die Gefühle der Kinder weg zu machen, wegzuwischen, wegzuschieben. Wir lenken die Kinder ab. Eine Situation, in der Ablenkung beispielsweise häufig in der Kinderbetreuung beobachtet werden kann, ist die Abgabesituation am Morgen, wenn die Eltern die Kinder an die Fachkräfte übergeben. Diese Situation ist immer wieder mit vielen, zum Teil auch starken Emotionen verbunden. Manchmal verspüren wir den inneren Drang danach, die Gefühle der Kinder abzulenken, wenn sie traurig sind, hinfallen oder wenn sie wütend werden.

“Ist doch nicht so schlimm! Stehe wieder auf”, “war doch nichts. Guck mal da vorne sind deine Freunde. Die spielen schon, sie warten auf dich” oder “jetzt mach nicht so einen Aufstand, dann teilt ihr eben das Spielzeug”, “guck mal, hier ist doch der Ritter, den du vorhin haben wolltest und die Ritterburg ist jetzt auch frei!”

Wir verfolgen mit der Ablenkung von Gefühlen meist unbewusst ein bestimmtes Ziel: die Gefühle der Kinder so schnell wie möglich zu stoppen. Das gelingt manchmal auch erstmal gut, die Kinder beruhigen sich für einen Moment. Wir dürfen jedoch nicht dem Trugschluss unterliegen, Sie würden sich beruhigen weil sie sich getröstet fühlen, das Gefühl verstehen und sich gut regulieren können, sondern weil sich dahinter schmerzhafte Botschaften verbergen:

das, was du fühlst, ist falsch!

du bist nicht richtig!

du sollst dich ändern!

Das Kind hat das Gefühl in Zusammenhang mit der Situation also nicht verarbeitet und integriert (vgl. Siegel 2017), sondern heruntergeschluckt, verdrängt und aufgeschoben. Wenn das Kind keinen anderen Weg findet, die aufgestaute Anspannung im Körper loszuwerden z.B. durch Bewegung, entlädt sie sich womöglich zu einem späteren Zeitpunkt entweder noch in der Kita oder zu Hause. Das sind die Momente, in denen Kinder zusammenbrechen, wütend werden, andere Kinder vermeintlich grundlos ärgern, Fachkräfte “provozieren”, nicht hören oder ähnliches. Das ist der Moment, in dem die Aggression und Wut nicht mehr nur punktuell zum Vorschein kommt, sondern geladen in einer Dichte, die unkontrolliert ist.

Warum wollen wir dann eigentlich die Gefühle ablenken?

Wir sind in emotionsreichen Situationen immer auch mit unseren eigenen Gefühlen konfrontiert. Unsere eigenen Kindheitserfahrungen, unsere eigenen Wünsche, unsere eigenen Erwartungen an uns selbst und auch unsere verinnerlichten, verdrängten Traumata treten unbewusst in Erscheinung, wollen gesehen und verarbeitet werden. Höre dazu auch gerne die Podcastfolge Warum pädagogische Fachkräfte sich mit ihren Kindheitserfahrungen und Glaubenssätzen auseinandersetzen sollten.

Wenn es zum Beispiel um den Abschiedsschmerz am Morgen geht, kann es sein, dass wir mit einer Trauer konfrontiert sind, die wir womöglich selbst nicht verarbeitet haben. Es kann sein, dass unsere eigene Betreuungsbiografie relevant wird, wie wir selbst in der Kita abgegeben wurden, wie wir verabschiedet wurden, welchen Schmerz wir dabei erlebt haben und wie wir Trost erhalten haben. In den Abschiedssituationen können negative Erlebnisse und damit verknüpften schmerzhaften Gefühle unbewusst zu Tage treten. Weil wir diesen Schmerz jedoch nicht spüren wollen, verdrängen wir die Gefühle schnell, verschieben sie und lenken sie stellvertretend beim Kind ab.

Um diesem Teufelskreis zu entkommen, ist es notwendig, die eigenen Gefühlsanteile zu reflektieren.

Reflexionsübung:

  • in welchen Momenten kannst du gut mit Gefühlen der Kinder oder auch der Eltern umgehen und in welchen Momenten weniger gut?
  • In welchen Momenten spürst du den Drang, Gefühle abzulenken?
  • Warum willst du diese Gefühle in dem Moment ablenken?
  • Was hat das eventuell mit dir selbst zu tun?
  • Was hat das vielleicht mit deiner eigenen Kindheit oder deiner Betreuungsbiografie zu tun?
  • Waren dir diese bestimmten Gefühle vielleicht nicht erlaubt?

Du kannst auch positive Glaubenssätze üben:

  • Jedes Gefühl darf sein. 
  • Wut darf sein, Trauer darf sein, Ärger darf sein, Neid darf sein, Ekel darf sein, Freude darf sein.
  • Es ist gut, wenn Kinder weinen
  • Es ist ok, wenn Kinder längere Zeit weinen.

Begleite die Kinder in ihrem Sein

Begleite die Kinder in ihren Gefühlen, in dem wie sie sind und sage dir, das Gefühl darf da sein! Vermittle die Botschaft an dich und das Kind, die Trauer darf da sein, die Wut darf da sein und ich bin bei dir! Es ist erlaubt, dass ein Kind zum Beispiel längere Zeit einfach auf deinem Schoß sitzt und weint. Du kannst ihm gut zureden und sagen: “ich bin da, es ist in Ordnung, dass du weinst, dass du traurig bist, das darf sein!”

Du brauchst dabei keine Angst zu haben, dass das Kind dann nicht mehr aufhört zu weinen. Wenn der Stress entladen ist, wird das Kind ganz von alleine wieder seinem Bedürfnis nach Autonomie und Spiel nachkommen und ganz von selbst vom Schoß hüpfen.

Ein Bedürfnis ist nur so lange aktiv, wie es unbefriedigt bleibt.

Das lässt sich rein physiologisch erklären. Durch die Tränen werden Stresshormone abgebaut und ausgeschwemmt. Sobald der Stress ausreichend entladen ist, werden keine Tränen mehr benötigt. Die Trauer darf also sein und das selbstbestimmte wieder aufstehen und Weiterspielen darf auch sein. Lass es geschehen!

Das bedeutet nicht, dass du mit dauerhafter ungeteilte Aufmerksamkeit beim trauernden Kind sein musst. Das wäre bei den aktuellen Rahmenbedingungen auch gar nicht möglich. Wenn aus deinem Herzen die Botschaft spricht, ich bin für dich da, du bist ok, du darfst so sein, wie du bist, ist es durchaus möglich, auch nebenbei etwas anderes zu tun. Auch die Art des Körperkontakts kann dem Kind immer wieder vermitteln, ich bin für dich da, du bist wichtig. Die Hand liegt z.B. auf der Schulter oder am Bein. Auch warme Worte können zwischendurch Wunder bewirken auch wenn ich mich währenddessen immer mal wieder um ein anderes Kind kümmere oder mit anderen Kindern spreche.

Siegel, D. J./ Bryson, T. P. (2017): Achtsame Kommunikation mit Kindern. 12 revolutionäre Strategien aus der Hirnforschung für die gesunde Entwicklung Ihres Kindes. Freiburg: Arbor Verlag.

Zum Weiterlesen:

Umgang mit der Wut der Kinder

Warum pädagogische Fachkräfte sich mit ihren eigenen Kindheitserfahrungen, Beziehungsmustern und Glaubenssätzen auseinandersetzen sollten

Zum Weiterhören:

Warum pädagogische Fachkräfte sich mit ihren eigenen Kindheitserfahrungen, Beziehungsmustern und Glaubenssätzen auseinandersetzen sollten


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Umgang mit der Wut der Kinder in der bedürfnisorientierten Kinderbetreuung

Wütend ist jeder Mensch das ein oder andere Mal. Die Wut gehört als Gefühl genauso zu uns wie die Trauer, die Freude und die Angst. Die Frage ist nur, ob wir eine Wahrnehmung für diese Wut haben, merken, wann sie in uns aufsteigt und ob wir wissen, was sie uns sagen will.

Zuerst beginnt das Herz zu klopfen, der Magen verkrümmt sich und das Gefühl steigt erst langsam, dann immer schneller in uns auf. 

Wenn wir diese Zeichen nicht spüren, platzt die Wut zu einem späteren Zeitpunkt geballt aus uns heraus und wir wissen nicht mehr, wo kam die Wut denn genau her? Es ist schwer herauszufiltern, was genau die Auslöser waren.

Wut rechtzeitig wahrnehmen

Wenn wir es schaffen rechtzeitig zu merken, dass wir wütend werden, kann das oft verpönte Gefühl der Wut unter Umständen sehr nützlich sein.

Es zeigt, mir geht es nicht gut, irgendwas stimmt hier nicht, ich gehe über meine Grenze, jemand anders geht über meine Grenze, ein Bedürfnis ist nicht ausreichend erfüllt.

Auf dieser Basis habe ich dann die Möglichkeit, für mich eine persönliche Lösung zu finden, die dazu beiträgt, dass ich mein inneres Gleichgewicht wiederfinden kann. 

Ich gehe folglich verantwortlich mit meinem Gefühl um, bin nicht von Schuldgefühlen geplagt, muss nicht in den Kampf, die Aggression oder die Resignation gehen. 

Umgang mit der Wut der Kinder in der bedürfnisorientierten Kinderbetreuung

Dieser Umgang mit Wut ist ein wichtiger Baustein der Bedürfnisorientierten Kinderbetreuung. Wir Fachkräfte können die Kinder darin unterstützen, ihre Wut wahrzunehmen, die Ursachen für sie herauszufinden und gemeinsam mit ihnen Lösungsstrategien zu entwickeln. 

1) Wahrnehmung der Wut

Wir Fachkräfte begleiten die Kinder in der Wahrnehmung ihrer Wut, machen sie darauf aufmerksam: 

“schau mal, du bist gerade wütend”, 

“merkst du, wie sich das anfühlt?” 

“ein Groll steigt langsam in deinem Bauch empor oder wie fühlt sich das genau bei dir an?” 

2) Ursachen für die Wut ergründen

Wir können den Kindern helfen, die Ursache für ihre Wut und das Bedürfnis dahinter herauszufinden und zu verstehen. Sie schulen dadurch ihre Wahrnehmung für die Entstehung ihrer Wut.

“achso, du wolltest auch die Schaufel haben, verstehe”

“der Benni hat dir das Laufrad weggenommen, das macht dich so wütend”

“verstehe, du hast eine tolle Sandburg gebaut und die ist jetzt kaputt?”

 

3) Lösungsstrategien mit dem Kind entwickeln

Im dritten Schritt kann man gemeinsam mit dem Kind eine Strategie erarbeiten, wie es sich sein unbefriedigtes Bedürfnis erfüllen kann. 

“hast du eine Idee, wie du auch so eine Schaufel bekommen kannst?

“magst du Lara mal fragen ob du die Schaufel auch mal haben kannst?”

“du würdest dem Jan gerne sagen, dass du wütend bist weil er deine Sandburg kaputt gemacht hat?” “Magst du zu ihm hingehen?” Soll ich mitkommen?”

Umgang mit Wut als wichtige Sozialkompetenz

Durch diese drei Schritte lernt ein Kind, dass Wut gut ist und nichts bedrohliches. Es lernt, dass es seine Wut nicht wegschieben oder unterdrücken muss. Es lernt, dass es einen Weg gibt, das Gefühl konstruktiv zu nutzen. Es lernt, seine Wut rechtzeitig wahrzunehmen, ihren Ursprung zu verstehen und eine Lösung für seine Bedürfnisse, die hinter der Wut stehen, zu finden. 

Der Umgang mit Wut ist eine äußerst wichtige Sozialkompetenz, die Kinder bereits im Kindergartenalter lernen können. Denn Wut hilft uns für unsere eigenen Bedürfnisse einzustehen. Wir können ihre Energie nutzen um „Ja“ zu sagen, „Nein“ zu sagen, „bleibe“ zu sagen oder „geh weg“ zu sagen. Wir können die Wut als Motor unserer inneren Bedürfnisse verstehen und nutzen. Unausgelebte Wut führt hingegen dazu, dass wir traurig werden oder sogar depressiv (Deutschlandfunk Kultur).

Manche Kinder sind scheinbar nicht wütend

Manche Kinder zeigen keine Wut, so scheint es häufig. Das liegt allerdings nicht daran, dass sie nicht wütend sind, sondern dass sie keine Platftorm erhalten, auf der diesem negativen Gefühl Raum gegeben wird. Kinder merken schnell, bei wem Wut erwünscht ist und bei wem nicht. Sie passen sich an, schlucken ihre Wut runter, entfernen sich von sich selbst.

Zu oft erlebe ich es noch in Einrichtungen, dass die Wut der Kinder runtergespielt, nicht ernst genommen wird, nicht genutzt, überspielt oder unterdrückt wird. Ich höre noch viel zu oft die Sätze:

“jetzt beruhig dich mal”

“der bockt schon wieder”

“unser Wutzwerg mal wieder”

“komm wir schicken den Ziegenbock raus”

“und da fliegt die Wut aus dem Fenster”

Damit wird die Wut der Kinder nicht ernst genommen. Diese Sätze haben immer die gleiche Botschaft:

„wir wollen die Wut hier nicht haben“ „tue etwas, damit du nicht mehr wütend bist“.

Verfolgen wir jedoch unbewusst oder bewusst als einziges Ziel, irgendwie die Wut der Kinder wegzuschieben, weg zu bekommen, hat das Kind wenig Möglichkeit sie zu spüren und für sich etwas über sich zu lernen. Denn wie soll ein Kind, das seine Wut nicht zeigen durfte, lernen, wie es mit ihr umgeht? Kinder unterdrücken folglich ihre Wut und entwickeln womöglich bei aufkommender Wut unbewusst Schuldgefühle.

Kinder mit ihrer Wut alleine lassen

In der Wut der Kinder haben wir oft das Bedürfnis zu flüchten. In uns steigt der Fluchtreflex aus dem Stammhirn empor und wir schaffen es nicht körperlich präsent und emotional in Verbindung mit dem Kind zu bleiben.

Kinder mit ihrer Wut alleine zu lassen, empfinden diese wie eine Bestrafung (s. Quelle)

Wenn sie wütend werden brauchen sie unsere Präsenz, das Gefühl, wir lassen sie nicht im Stich. Auch wenn sie wütend werden sind wir für sie da. Sie brauchen das Gefühl ich werde auch wahrgenommen, angenommen, respektiert und toleriert, wenn die Wut in mir aufsteigt. Es ist jemand da, der mich tröstet und bei mir ist. Das spendet Trost und verringert die Angst vor der nächsten Wut.

Passive Aggressivität im Erwachsenenalter

Wenn Kinder lernen, dass ihre Wut nicht willkommen ist, zeigen sie diese später im Erwachsenenalter häufig in passiv aggressiver Form. Sie haben verinnerlicht,

“offen sollte ich meine Wut lieber nicht zeigen. Das hat negative Konsequenzen für mich”.

Ihre passive Aggressivität zeigt sich beispielsweise im chronischen zu spät kommen, Augen rollen, körperlich wegdrehen, Herabwürdigung des anderen,  Ausweichen von Konfliktgesprächen, Intrigen spinnen, Ärgern, sich selbst schlecht reden uvm. Sie wissen einfach nicht, wann wurde ich warum wütend und wie kann ich meine Wut in ein konstruktives Handeln umwandeln.

Die Wut ist bei uns Menschen also da. Die Frage ist nur, wie gehen wir mit ihr um? Was lernen wir aus ihr? Erlauben wir ihr zum Ausdruck zu kommen und sie als Zeichen für uns selbst wahrzunehmen.

Heißen wir sie in den Betreuungseinrichtungen also jeder Zeit willkommen. Lernen wir gemeinsam mit den Kindern, wie wir sie feiern und für uns nutzen können.

„Juhuuu, wir sind wütend!“ „Wut ist etwas tolles!“

Begleiten wir die Kinder in der Kinderbetreuung darin bedürfnisorientiert ihre Wut zu verstehen. Das ist die beste Vorbereitung auf ein glückliches, verantwortungsbewusstes Leben.

Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/emotionsforschung-wer-wut-unterdrueckt-kann-depressiv-werden.976.de.html?dram:article_id=466223 (Letzter Zugriff: 19.01.2020)


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