„Wart ihr auch immer brav?“ – was brav sein für Kinder bedeutet

In sicherlich mehr als 30 000 Kindertagesenrichtungen wurden Kinder in den letzten Wochen auf den WEIHNACHTSMANN vorbereitet. Kinderaugen begannen zu strahlen und ein Gefühl von Freude, etwas Geheimnisvollem und ein klein wenig Anspannung hat sich eingestellt. Und dann war da noch dieser Satz, den die ErzieherInnen immer wieder sagten: „wenn ihr lieb seid, kommt der Weihnachtsmann und bringt euch viele Geschenke“. Dann war der große Tag da, es gab eine kleine Weihnachtsfeier und der Weihnachtsmann (bei vielen vielleicht auch das Christkind) kam herein mit einem großen Sack voller Geschenke. Ein Gemisch aus Anspannung, Vorfreude und ein wenig Angst ist in den Augen mancher Kinder zu sehen. Und da ist er wieder dieser Satz: „und wart ihr auch immer brav?“ Die Kinder nicken „artig“ und hoffen nur, dass sie bald ihre Geschenke auspacken dürfen.

Was bedeutet es brav zu sein?

Aber was bedeutet eigentlich „LIEB sein“? Was bedeutet denn „BRAV sein“? Was bedeutet eigentlich „ARTIG sein“? Was meint der Weihnachtsmann damit? Was meinen die Erwachsenen damit?

Selbst für mich als erwachsene Frau ist es ziemlich schwer zu DEFINIEREN, was „lieb sein“ oder „brav sein“ denn meint. Wie schwer muss es für ein Kind wohl erst sein, zu begreifen, was die Erwachsenen von ihnen verlangen, wenn sie artig sein sollen.

Wenn man nach dem Begriff „brav“ im Internet sucht findet man bspw. die folgende Definition: „sich so verhaltend, wie es die Erwachsenen erwarten oder wünschen; gehorsam; artig“. Als Synonyme dafür werden die Wörter „artig“, „folgsam“, „fügsam“, „gefügig“ „gehorsam“, „gesittet“ angebracht. Das hört sich irgendwie nicht schön an.

Ich versuche nun mal ein paar VERMUTUNGEN anzustellen, was sich Erwachsene vorstellen, wenn Kinder lieb/ brav/ artig sein sollen. Vielleicht bedeutet es in den Augen der Erwachsenen , dass Kinder …

  • hören und nicht widersprechen sollen
  • nur positive Gefühle und keine negativen (wie Wut oder Ärger) Gefühle zeigen sollen (keine Trotzanfälle)
  • alle von ihnen verlangten Aufgaben ohne Murren erfüllen, also funktionieren sollen
  • dem Tagesablauf (Spielen, Essen, Schlafen, raus gehen usw.) entsprechend der Vorstellung der Erwachsenen folgen sollen.
  • keine Handgreiflichkeiten, Aggressionen oder sonstiges sozial unangemessenes Verhalten zeigen sollen

Ich vermute, wenn Kinder diesen aufgezählten ERWARTUNGEN entsprechen, sind sie „artige, liebe Kinder“ und die Erwachsenen sind zufrieden.

mit braven Kindern ist alles einfacher

Warum wollen viele Erwachsene eigentlich liebe und brave Kinder? Womöglich weil es einfacher ist, weil es weniger aufreibend ist, weil es besser FUNKTIONIERT, weil es weniger Konflikte gibt. Natürlich wäre alles einfacher wenn alle Kinder gehorchen, nur fröhlich, zufrieden sind und sie sich einfügen.

Auswirkungen des brav Seins auf die Kinder

Welche Auswirkungen kann es nun haben, wenn Kinder brav sein sollen und alles dafür tun, die Geschenke zu bekommen.

  1. Zunächst sind die Kinder durch diesen Satz einem enormen DRUCK und einer UNSICHERHEIT ausgesetzt. Sie wissen nicht „was bedeutet denn lieb/brav sein überhaupt?“. „ich muss etwas erfüllen, bei dem ich nicht genau weiß, was gemeint ist. Wie muss ich mich denn nun genau verhalten?“ Die Begriffe „lieb/brav/ artig bleiben unspezifisch und sind für Kinder nicht unmittelbar umsetzbar.
  2. KEINE NEGATIVEN GEFÜHLE wie Wut und Ärger zu zeigen ist ziemlich schwer, nahezu unmöglich. Negative Gefühle sind ein natürlicher Teil unserer Gefühlspalette. Wir können sie nicht weg rationalisieren oder unterdrücken. Insbesondere Kindergartenkinder können ihre Gefühlsimpulse noch nicht ausreichend kontrollieren und zurück halten. Wenn wir ehrlich sind, können das viele Erwachsene auch nicht (anschreien, Türen knallen). Allzu oft verlangen wir von Kindern alle negativen Impulse zu unterdrücken, schaffen es meistens jedoch selbst nicht. Negative Gefühle sind da und lassen sich allenfalls verdrängen. Folglich ist diese Erwartung keine negativen Gefühle zu zeigen erfüllbar.
  3. Wenn Kinder immer nur das tun, was von ihnen verlangt wird, VERLEUGNEN sie ihre eigenen BEDÜRFNISSE. Denn das Bedürfnis eines Kindes wird nur sehr selten genau dem Bedürfnis der Fachkräfte entsprechen. Über kurz oder lang kollidieren diese beiden Bedürfnisse und es entsteht ein Konflikt. Bedeutet es nun, da das Kind lautstark seine Position vertritt und einen Konflikt mit verursacht, dass es nicht „lieb“ oder „brav“ ist? Kinder, die widersprechen sind zwar nicht lieb aber sie stehen selbstbewusst für ihre Bedürfnisse ein und das sind doch Eigenschaften, die sich die meisten für unsere Kinder wünschen. Widersprechen bedeutet also, dass sie für sich und ihre Bedürfnisse einstehen.
  4. Wenn man vom POSITIVEN MENSCHENBILD Carl Rogers und Marshall Rosenbergs ausgeht, so versucht jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt das beste Verhalten zu zeigen, das ihm möglich ist. Das bedeutet, wenn ein Kind aggressive oder sonstige sozial unangemessene Verhaltensweisen zeigt, macht es das nicht mit böser Absicht, um Jemanden zu verletzen, sondern weil ihm zu dem Zeitpunkt keine anderen Mittel zur Verfügung stehen. Es handelt aus seinem Impuls heraus und hat keine andere Methode, um Konflikte friedvoll zu klären. Diese Kinder brauchen Unterstützung und Zuwendung. Sie zu bestrafen weil sie nicht „lieb“ sind, wäre verheerend und würde das unpassende Verhalten eher stärken.
  5. Kinder, die dauerhaft genau die Aufgaben erfüllen, die Erwachsene von ihnen verlangen, haben nur wenig Chance ihre eigenen individuellen Lern- und ENTWICKLUNGSAUFGABEN zu verfolgen. Wenn sie ständig Aufgaben der Erwachsenen erfüllen sollen (etwas bestimmtes basteln o.ä.) fehlen ihnen die tiefgreifenden Spielmomente, die ihnen ein Flow-Erleben ermöglichen, bei dem sie tatsächlich lernen. Alle Aufgaben, die Erwachsenen von Kindern verlangen (Anziehen, Aufräumen, Hygiene…) sind meist Bedürfnisse der Fachkräfte und nicht der Kinder. Wenn sie lieb sind und nur die Erwartungen der Fachkräfte erfüllen, verfolgen sie also nicht ihre eigenen Interessen sondern nur die der Erwachsenen.
  6. Kinder, die brav folgsam den TAGESABLAUF der Fachkräfte einhalten, tun dies um sich anzupassen und keinen Ärger zu machen. Es ist kaum vorstellbar, dass alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt hungrig oder müde sind, raus gehen oder spielen wollen. Wenn ein Kind sich gegen das Schlafen, gegen das Essen auflehnt und folglich wenig „lieb/brav“ reagiert, ist das eigentlich sein gutes Recht!

„brav sein“ als kaum erfüllbare Erwartung

Wenn ich es also genau bedenke, ist brav, lieb und artig sein ganz schön schwer zu erfüllen. Eigentlich müsste man sagen, es ist kaum erfüllbar. Kinder wären Maschinen, die funktionieren, Aufgaben erfüllen, Gefühle verdrängen, sich ausschließlich äußeren Erwartungen anpassen und sich weit von sich selbst entfernen. Also ein großer Preis für ein paar Geschenke.

Ein neuer Weihnachtsmann?

All das sollte nicht das Ziel der Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen und auch nicht Ziel des Weihnachtsmanns sein. Ich finde, ab nächstem Jahr sollte es einen neuen Weihnachsmann geben. Ein Weihnachtsmann, der fragt:

„durftet ihr immer für euch einstehen?“ Durftet ihr alle eure Gefühle zeigen auch wenn ihr traurig, wütend, ärgerlich wart?“

„Durftet ihr Regeln hinterfragen, die für euch unpassend erschienen?“

„durftet ihr eure Grenzen wahren?“

„durftet ihr eure Bedürfnisse zeigen und habt sie erfüllt bekommen?“

… dann habt ihr euch selbst ein Geschenk gemacht: ein selbstbestimmtes, authentisches und glückliches Leben!


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