die Bedürfnisse des Menschen – eine Übersicht

Um in der Kinderbetreuung bedürfnisorientiert arbeiten zu können, kann es hilfreich sein, sich die wichtigsten Bedürfnisse eines jeden Menschen nochmal vor Augen zu führen.

Mit dem umfangreichen Themenkomplex Bedürfnisse des Menschen haben sich bereits mehrere Wissenschaftler auseinandergesetzt. Die bekanntesten sind: A. Maslow, T.B. Brazelton und M.B. Rosenberg. In Anlehnung an ihre Konzepte habe ich nachfolgend die wichtigsten Bedürfnisse des Menschen zusammengetragen.

Alle drei Fachleute sind sich darüber einig: wenn der Mensch sich einen oder mehrere Bedürfnisse über lange Zeit nicht erfüllen kann, wird er unglücklich oder krank. Bei bestimmten Bedürfnissen kann die nicht Erfüllung sogar zum Tod führen.

1. Physiologische Grundbedürfnisse: jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Schlaf, Essen, Trinken, auf Toilette gehen, Gesundheit und Sexualität

2. Bedürfnis nach Beziehung: jeder Mensch braucht für sein Wohlbefinden beständige liebevolle Beziehungen. Bindung ist eines der grundlegendsten Bedürfnisse, die wir als Menschen haben. In unseren Beziehungen finden wir Schutz, Sicherheit und eine vertrauensvolle Person, die uns hilft, wenn es uns nicht gut geht. Wir können uns sicher sein, dass sie uns respektvoll behandelt, uns vertraut und uns unterstützt.

3. Bedürfnis nach Sicherheit: Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach körperliche Unversehrtheit, Sicherheit und Schutz. Wir brauchen die Gewissheit in einer behaglichen Atmosphäre angstfrei sein zu dürfen

4. Bedürfnis nach Kontakt und Zugehörigkeit: wir Menschen sind „Herdentiere“. Wir suchen den Kontakt zu unserer sozialen Gruppe und wollen ein fester Bestandteil der Gruppe sein. Um uns wohl zu fühlen, brauchen wir ein Gefühl von Nähe, Liebe, Zusammensein und Gemeinschaft mit anderen. Freundschaften machen uns glücklich. Wenn wir mit Menschen zu tun haben, die ähnliche Interessen verfolgen, wir etwas mit ihnen teilen können, erfüllt das eines unserer wesentlichen Bedürfnisse.

5. Bedürfnis nach Erholung: nach Anstrengung, Stress oder vielen Eindrücken haben wir das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung. Wir brauchen zwischendurch freie Zeit, die Möglichkeit etwas selbstbestimmt zu tun, sich körperlich und geistig „aufzutanken“ oder alleine zu sein. Menschen haben das Bedürfnis nach Urlaub und nach Ferien. Jeder Mensch nutzt andere Strategien, um sich zu entspannen.

6. Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen: Menschen suchen nach Kontinuität. Sie nutzen Rituale, um ihr Leben zu strukturieren. Gleichbleibende Abläufe können uns Halt geben. Wir haben das Bedürfnis, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu erfahren und zu verstehen.

7. Bedürfnis nach Autonomie: Wir Menschen wollen Erfahrungen machen, raus in die Welt, uns verwirklichen, unsere Potenziale entfalten, selbstbestimmt sein. Wir wollen uns ausdrücken und uns entwickeln. Dazu brauchen wir Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen, die für uns und unsere Kompetenzen passend sind. Wir wollen Verantwortung übernehmen und so leben, wie wir möchten. Wir wollen uns selbst Ziele stecken, Träume entwickeln und uns selbst Werte wählen, die für uns passen. Wir brauchen das Recht auf Individualität, Freiräume für schöpferisches Arbeiten und Kreativität. Wir brauchen die Autonomie, um authentisch leben zu können.

8. Bedürfnis nach Anerkennung: Wir suchen danach, Anerkennung für unsere Leistung zu bekommen. Wir wollen wichtig sein, wertvoll sein, eine Geltung haben. Wir suchen nach Zustimmung und Resonanz. Anerkennung sollte nicht mit Belohnung verwechselt werden.

9. Bedürfnis nach Spiel: der Mensch hat das Bedürfnis nach Spiel, nach freiem, zweckfreiem Tun.

10. Bedürfnis nach Feiern und Spiritualität: wir Menschen wollen Freude erleben, lachen und die Schönheit des Lebens genießen. Wir haben das Bedürfnis über philosophische Fragen nachzudenken, die mit unserem Leben zu tun haben. Wir wollen beispielsweise darüber nachdenken, wie Leben entsteht oder was der Tod ist. Wir wollen uns mit den Themen Abschied Übergänge, Frieden und Glaube auseinandersetzen.

11. Bedürfnis nach Empathie: nach Rosenberg haben wir ein Bedürfnis nach Empathie. Das bedeutet, wir suchen nach einem Gegenüber, das uns versteht, sich in uns hineinfühlen kann, uns sieht und hört. Wir suchen danach, Verständnis und Wertschätzung von unserem Gegenüber für unsere Gefühle, für unser Handeln zu erhalten. Wir wünschen uns Respekt und Akzeptanz.

12. Bedürfnis nach Würde und Sinn: wir wollen uns in unserem Sein angenommen fühlen und uns selbst als wertvoll betrachten. Wir wollen in unserem Tun einen Sinn erkennen, einen Beitrag zum großen Ganzen leisten, etwas bewegen und unser Tun als bedeutend erleben. Der Mensch möchte gebraucht werden.

  • Brazelton, T. Berry, Greenspan, Stanley I. (2002): Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern. was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein. Weinheim [u.a.]: Beltz.
  • Maslow, A. (1943): A theory of human motivation. In: Psychological Review, 50(4), 370-396
  • Rosenberg, Marshall, B. (2016): Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens.


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Umgang mit der Wut der Kinder in der bedürfnisorientierten Kinderbetreuung

Wütend ist jeder Mensch das ein oder andere Mal. Die Wut gehört als Gefühl genauso zu uns wie die Trauer, die Freude und die Angst. Die Frage ist nur, ob wir eine Wahrnehmung für diese Wut haben, merken, wann sie in uns aufsteigt und ob wir wissen, was sie uns sagen will.

Zuerst beginnt das Herz zu klopfen, der Magen verkrümmt sich und das Gefühl steigt erst langsam, dann immer schneller in uns auf. 

Wenn wir diese Zeichen nicht spüren, platzt die Wut zu einem späteren Zeitpunkt geballt aus uns heraus und wir wissen nicht mehr, wo kam die Wut denn genau her? Es ist schwer herauszufiltern, was genau die Auslöser waren.

Wut rechtzeitig wahrnehmen

Wenn wir es schaffen rechtzeitig zu merken, dass wir wütend werden, kann das oft verpönte Gefühl der Wut unter Umständen sehr nützlich sein.

Es zeigt, mir geht es nicht gut, irgendwas stimmt hier nicht, ich gehe über meine Grenze, jemand anders geht über meine Grenze, ein Bedürfnis ist nicht ausreichend erfüllt.

Auf dieser Basis habe ich dann die Möglichkeit, für mich eine persönliche Lösung zu finden, die dazu beiträgt, dass ich mein inneres Gleichgewicht wiederfinden kann. 

Ich gehe folglich verantwortlich mit meinem Gefühl um, bin nicht von Schuldgefühlen geplagt, muss nicht in den Kampf, die Aggression oder die Resignation gehen. 

Umgang mit der Wut der Kinder in der bedürfnisorientierten Kinderbetreuung

Dieser Umgang mit Wut ist ein wichtiger Baustein der Bedürfnisorientierten Kinderbetreuung. Wir Fachkräfte können die Kinder darin unterstützen, ihre Wut wahrzunehmen, die Ursachen für sie herauszufinden und gemeinsam mit ihnen Lösungsstrategien zu entwickeln. 

1) Wahrnehmung der Wut

Wir Fachkräfte begleiten die Kinder in der Wahrnehmung ihrer Wut, machen sie darauf aufmerksam: 

“schau mal, du bist gerade wütend”, 

“merkst du, wie sich das anfühlt?” 

“ein Groll steigt langsam in deinem Bauch empor oder wie fühlt sich das genau bei dir an?” 

2) Ursachen für die Wut ergründen

Wir können den Kindern helfen, die Ursache für ihre Wut und das Bedürfnis dahinter herauszufinden und zu verstehen. Sie schulen dadurch ihre Wahrnehmung für die Entstehung ihrer Wut.

“achso, du wolltest auch die Schaufel haben, verstehe”

“der Benni hat dir das Laufrad weggenommen, das macht dich so wütend”

“verstehe, du hast eine tolle Sandburg gebaut und die ist jetzt kaputt?”

 

3) Lösungsstrategien mit dem Kind entwickeln

Im dritten Schritt kann man gemeinsam mit dem Kind eine Strategie erarbeiten, wie es sich sein unbefriedigtes Bedürfnis erfüllen kann. 

“hast du eine Idee, wie du auch so eine Schaufel bekommen kannst?

“magst du Lara mal fragen ob du die Schaufel auch mal haben kannst?”

“du würdest dem Jan gerne sagen, dass du wütend bist weil er deine Sandburg kaputt gemacht hat?” “Magst du zu ihm hingehen?” Soll ich mitkommen?”

Umgang mit Wut als wichtige Sozialkompetenz

Durch diese drei Schritte lernt ein Kind, dass Wut gut ist und nichts bedrohliches. Es lernt, dass es seine Wut nicht wegschieben oder unterdrücken muss. Es lernt, dass es einen Weg gibt, das Gefühl konstruktiv zu nutzen. Es lernt, seine Wut rechtzeitig wahrzunehmen, ihren Ursprung zu verstehen und eine Lösung für seine Bedürfnisse, die hinter der Wut stehen, zu finden. 

Der Umgang mit Wut ist eine äußerst wichtige Sozialkompetenz, die Kinder bereits im Kindergartenalter lernen können. Denn Wut hilft uns für unsere eigenen Bedürfnisse einzustehen. Wir können ihre Energie nutzen um „Ja“ zu sagen, „Nein“ zu sagen, „bleibe“ zu sagen oder „geh weg“ zu sagen. Wir können die Wut als Motor unserer inneren Bedürfnisse verstehen und nutzen. Unausgelebte Wut führt hingegen dazu, dass wir traurig werden oder sogar depressiv (Deutschlandfunk Kultur).

Manche Kinder sind scheinbar nicht wütend

Manche Kinder zeigen keine Wut, so scheint es häufig. Das liegt allerdings nicht daran, dass sie nicht wütend sind, sondern dass sie keine Platftorm erhalten, auf der diesem negativen Gefühl Raum gegeben wird. Kinder merken schnell, bei wem Wut erwünscht ist und bei wem nicht. Sie passen sich an, schlucken ihre Wut runter, entfernen sich von sich selbst.

Zu oft erlebe ich es noch in Einrichtungen, dass die Wut der Kinder runtergespielt, nicht ernst genommen wird, nicht genutzt, überspielt oder unterdrückt wird. Ich höre noch viel zu oft die Sätze:

“jetzt beruhig dich mal”

“der bockt schon wieder”

“unser Wutzwerg mal wieder”

“komm wir schicken den Ziegenbock raus”

“und da fliegt die Wut aus dem Fenster”

Damit wird die Wut der Kinder nicht ernst genommen. Diese Sätze haben immer die gleiche Botschaft:

„wir wollen die Wut hier nicht haben“ „tue etwas, damit du nicht mehr wütend bist“.

Verfolgen wir jedoch unbewusst oder bewusst als einziges Ziel, irgendwie die Wut der Kinder wegzuschieben, weg zu bekommen, hat das Kind wenig Möglichkeit sie zu spüren und für sich etwas über sich zu lernen. Denn wie soll ein Kind, das seine Wut nicht zeigen durfte, lernen, wie es mit ihr umgeht? Kinder unterdrücken folglich ihre Wut und entwickeln womöglich bei aufkommender Wut unbewusst Schuldgefühle.

Kinder mit ihrer Wut alleine lassen

In der Wut der Kinder haben wir oft das Bedürfnis zu flüchten. In uns steigt der Fluchtreflex aus dem Stammhirn empor und wir schaffen es nicht körperlich präsent und emotional in Verbindung mit dem Kind zu bleiben.

Kinder mit ihrer Wut alleine zu lassen, empfinden diese wie eine Bestrafung (s. Quelle)

Wenn sie wütend werden brauchen sie unsere Präsenz, das Gefühl, wir lassen sie nicht im Stich. Auch wenn sie wütend werden sind wir für sie da. Sie brauchen das Gefühl ich werde auch wahrgenommen, angenommen, respektiert und toleriert, wenn die Wut in mir aufsteigt. Es ist jemand da, der mich tröstet und bei mir ist. Das spendet Trost und verringert die Angst vor der nächsten Wut.

Passive Aggressivität im Erwachsenenalter

Wenn Kinder lernen, dass ihre Wut nicht willkommen ist, zeigen sie diese später im Erwachsenenalter häufig in passiv aggressiver Form. Sie haben verinnerlicht,

“offen sollte ich meine Wut lieber nicht zeigen. Das hat negative Konsequenzen für mich”.

Ihre passive Aggressivität zeigt sich beispielsweise im chronischen zu spät kommen, Augen rollen, körperlich wegdrehen, Herabwürdigung des anderen,  Ausweichen von Konfliktgesprächen, Intrigen spinnen, Ärgern, sich selbst schlecht reden uvm. Sie wissen einfach nicht, wann wurde ich warum wütend und wie kann ich meine Wut in ein konstruktives Handeln umwandeln.

Die Wut ist bei uns Menschen also da. Die Frage ist nur, wie gehen wir mit ihr um? Was lernen wir aus ihr? Erlauben wir ihr zum Ausdruck zu kommen und sie als Zeichen für uns selbst wahrzunehmen.

Heißen wir sie in den Betreuungseinrichtungen also jeder Zeit willkommen. Lernen wir gemeinsam mit den Kindern, wie wir sie feiern und für uns nutzen können.

„Juhuuu, wir sind wütend!“ „Wut ist etwas tolles!“

Begleiten wir die Kinder in der Kinderbetreuung darin bedürfnisorientiert ihre Wut zu verstehen. Das ist die beste Vorbereitung auf ein glückliches, verantwortungsbewusstes Leben.

Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/emotionsforschung-wer-wut-unterdrueckt-kann-depressiv-werden.976.de.html?dram:article_id=466223 (Letzter Zugriff: 19.01.2020)


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Die Morgenkreis-Falle – für manche Kinder sind Morgenkreise eine Qual!

der Morgenkreis ist doch das A und O einer Kita! In jeder Kita werden Morgenkreise durchgeführt. Hat man das nicht schon immer so gemacht?! Kinder brauchen Rituale, Struktur sonst können sie sich nicht orientieren, fühlen sich nicht sicher. Ist das wirklich so?

Nein. All das sind Glaubenssätze, die ich schon oft zum Thema Morgenkreis gehört habe.


Ein Morgenkreis kann wirklich etwas Schönes sein … FÜR MANCHE KINDER

Ein Morgenkreis kann wirklich den Tag strukturieren
… FÜR MANCHE KINDER

Ein Morgenkreis kann wirklich etwas beinhalten, bei dem man etwas lernen kann
… FÜR MANCHE KINDERER

Ein Morgenkreis kann wirklich etwas interessantes sein
… FÜR MANCHE KINDERER

Ein Morgenkreis kann wirklich Spaß machen … FÜR MANCHE KINDER

…ABER lange nicht für ALLE KINDER!
Für manche Kinder ist der Morgenkreis eine QUAL. Sie müssen still sitzen obwohl sie längst ihre Idee von heute Morgen umsetzen wollen. Sie müssen still sitzen obwohl sie den inneren Drang haben das Spiel von gestern mit ihrem Freund weiterzuspielen. Sie sollen bei etwas zuhören, was sie überhaupt nicht interessiert. Sie sollen etwas lernen, das sie gerade nicht lernen wollen. Sie können nicht ruhig sitzen, sie können nicht zuhören, sie wollen nicht zuhören, sie denken schon die ganze Zeit an ihre Ritterburg im anderen Raum, an ihr Feenschloß im Garten oder ihren aufwendigen Papierdrachen im Atelier.


Sie werden folglich mehrfach ermahnt, werden umgesetzt, werden aus dem Zimmer geworfen. Und jetzt? Na das ist ja ein toller Morgen, schon jetzt eine miese Stimmung. Und das Kind bleibt zurück mit viel ÄRGER, FRUST und WUT. Am Ende sind alle entnervt, die Fachkräfte, das betroffene Kind und die anderen Kinder. Na ob das wirklich noch ein schöner Tag wird? Und das, obwohl der Morgenkreis doch eigentlich dazu da sein soll, den Tag schön zu beginnen oder?


Gibt es vielleicht auch eine andere Möglichkeit den Tag schön zu beginnen?Wie gestaltet ihr den Morgenkreis bedürfnisorientiert? Wie gestaltet ihr den Morgenkreis individuell?


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Warum sich pädagogische Fachkräfte mit ihren eigenen Kindheitserfahrungen, Beziehungsmustern und Glaubenssätzen auseinandersetzen sollten

Ich frage mich seit geraumer Zeit, warum Psychotherapeuten viel mehr verpflichtende Selbsterfahrungsanteile in ihrer Arbeit und ihrer Ausbildung haben als ErzieherInnen. Eigentlich haben sie doch eine ähnliche Aufgabe wie Psychotherapeuten: sie begleiten Menschen dabei ihre Gefühle und Bedürfnisse zu verstehen, mit ihren Gefühlen umzugehen, Handlungsstrategien zu entwickeln, die sozial akzeptiert sind und das alles zu wesentlich schlechteren Konditionen als Psychotherapeuten.

Warum Therapeuten Selbsterfahrung brauchen

Psychotherapeuten sind in ihrer Ausbildung dazu verpflichtet sich selbst und ihr Schattenkind (Stahl, 2019) in den Blick zu nehmen, zu reflektieren und für sich anzunehmen. Selbsterfahrung und Supervision sind ein wesentlicher Teil ihrer Ausbildung und umfassen insgesamt ca. 270 Stunden (https://www.psychologie-studieren.de/ausbildungen/psychologischer-psychotherapeut/). Inhalte sind unter anderem der Blick in die eigene Lebensgeschichte, Emotionale Kompetenzen, Selbstwert, Tod, Trauer, Abschied.

Der GRUND für diese angeordnete Auseinandersetzung mit dem Selbst ist, dass ohne eine Aufarbeitung ungesunde Beziehungsmuster, unbewusste traumatische Erfahrungen und Glaubenssätzen in die Therapeuten-Klienten Beziehung getragen werden können. Bestimmte Klienten, Konflikte oder Gefühle wie Wut, Ärger oder Scham können – falls sie nicht aufgearbeitet und integriert wurden – den Therapeuten triggern und ihn in eine hilflose Situation bringen. Die daraus resultierende Unsicherheit oder Ohnmacht des Therapeuten kann dazu führen, dass dem Klienten nicht nur nicht geholfen, sondern geschadet werden kann.

Der Therapeut VERSTRICKT sich dann in die Beziehungsangelegenheiten des Klienten. Er vermag es folglich kaum ihm zu helfen sich zu beruhigen, die Lage aus einer anderen Perspektive zu sehen, ihm eine Regulationsstütze zu sein oder seine Gefühle in realistischer Weise zu betrachten. Es wird für ihn demnach schwer, die Gefühle des Klienten zu spiegeln weil ihn seine eigenen Gefühle überschwemmen oder sie nur noch verschwommen und konfus erlebt werden können. Der Kontakt, die Verbindung zum Klienten bricht schließlich für diesen Moment ab und es kann keine emotionale Unterstützung von Seiten des Therapeuten mehr gewährleistet werden.

Pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen führen ähnliche Aufgaben durch wie Psychotherapeuten

ErzieherInnen haben im Grunde die GLEICHEN AUFGABEN wie Psychotherapeuten. In den Kindertageseinrichtungen begeben sich Erwachsene in vertrauensvolle Beziehungen mit Menschen, um ihnen eine Stütze zu sein, ihre Gefühle, Bedürfnisse, Anliegen wahrzunehmen, zu begreifen und gemeinsam mit ihnen Handlungsstrategien zu entwickeln, die sozial angemessen und für ihr eigenes Seelenheil am gesündesten sind.

Fachkräfte sind der Anker, der HAFEN, der Fels in der Brandung, die Hilfestellung, der Ort des Trostes und der Motivation. Genau das sind auch die Aufgaben eines Therapeuten mit seinem Klienten. 

Es gibt allerdings einen gravierenden UNTERSCHIED: Pädagogische Fachkräfte begleiten nicht nur einen Menschen darin mit seinen Gefühlen umzugehen, sondern gleich mehrere auf einmal. Zudem sind Kinder in weiten Teilen von Erwachsenen und der Beziehung zu ihnen abhängig, sie können für gewöhnlich nicht aus der Beziehung aussteigen wie es ein Klient jeder Zeit könnte. Kinder haben keine Möglichkeit zu entscheiden, ob sie in der Kita bleiben oder nicht. 

Schlechte Rahmenbedingungen führen zu mehr Stress

Durch schlechte Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen kommt für die pädagogischen Fachkräfte die Erschwernis hinzu, dass Beziehungsarbeit SELTEN in RUHE, mit Muße, mit dem Fokus auf nur ein Kind möglich ist. Meist müssen sich PädagogInnen auf mehrere Kinder gleichzeitig konzentrieren, Lautstärke, Stress, Zeitdruck und Überforderung aushalten. Therapeuten hingegen haben meistens viel Zeit, können sich auf einen Klienten konzentrieren, der auch noch freiwillig zu ihnen in Beratung kommt. 

Das heißt, pädagogische Fachkräfte haben ÄHNLICHE AUFGABEN wie Psychotherapeuten, nur sie handeln zusätzlich unter enormem Druck und unter weitaus widrigeren Umständen

In stressigen Momenten greifen wir auf basale Verhaltensmuster zurück

Aus der Bindungsforschung ist bekannt, dass wir in stressigen Momenten am ehesten auf unsere innersten, bekanntesten Handlungsstrategien zurückgreifen (Fonagy/ Target, 2003), auch wenn wir rational gesehen diese Handlung nie gut heißen würden. Unter Druck handeln wir folglich so wie wir es viele Jahre in unserer Kindheit gelernt haben obwohl wir rational gesehen unter fachlichen Gesichtspunkten niemals so handeln würden. Stressige Momente bringen uns dazu, auf das unmittelbarste, bekannteste Verhaltensrepertoire zurückzugreifen. Das zeigt auch die Hirnforschung: in Angst besetzten Situationen reagiert unser Emotionalgehirn mit Flucht, Kampf oder totstellen. Das rationale Gehirn ist während dessen gänzlich ausgeschaltet (https://www.wopalm.com/stressreaktion/)

Gewalterfahrungen werden weiter getragen

Aus der Bindungsforschung weiß man auch, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ungünstige Beziehungsmuster (unsicher vermeidend, unsicher ambivalent, desorganisiert oder Bindungsstörungen) in der Interaktion mit Kindern auf sie ÜBERTRAGEN werde, also mit hoher Wahrscheinlichkeit transgenerational weitergegeben werden (Kißgen/ Suess 2005).

Die GEWALTFORSCHUNG zeigt ebenso, dass Menschen mit Gewalterfahrungen aus der eigenen Kindheit eine erhöhte Gewaltbereitschaft in neuen Beziehungen zeigen (Hohmann, 2018).

Das bedeutet, eine pädagogische Fachkraft trägt ihre unbewussten Erfahrungen, Einstellungen zu Kindern, ihre Beziehungserfahrungen, Konflikterfahrungen und tief verankerten Glaubenssätze – ebenso wie ein Therapeut – mit in die Interaktionen mit den Kindern. Sie haben somit einen unmittelbaren Einfluss darauf, welche Beziehungserfahrungen ein Kind macht, welche Glaubenssätze es entwickelt und welche Handlungsstrategien es in Konflikten entwickeln kann.

Reflexion eigener Anteile ist die Grundlage pädagogischer Arbeit

Es ist also unabdingbar, dass jede Fachkraft sich mit sich und ihren inneren Überzeugungen auseinandersetzt. Je nach Umfang und Dauer der Betreuung eines Kindes hat sie einen unmittelbaren Einfluss auf die Beziehungsmuster der Kinder. Denn innere Muster lassen sich – so Kißgen und Suess durch tiefgreifende Reflexionen aufarbeiten und verändern (2005). 

Wie kann ich mich reflektieren?

Wie kann es nun gelingen, das eigene Schattenkind (Stahl, 2019) zu ergründen? Es gibt einige Möglichkeiten. Ich schlage hier beispielhaft zwei Möglichkeiten vor:

Beobachten eigener Themen

nimm dir vor dich ganz genau im Alltag zu BEOBACHTEN. Achte darauf, in welchen Situationen werde ich unsicher, wann werde ich wütend und was macht mir Angst. Spüre in jeder Situation bewusst in dich hinein. Was triggert mich, wann fühle ich mich gar ohnmächtig? 

bekomme ich z.B. Angst, wenn …

… Kinder zu viel essen weil ich denke sie werden zu dick?

… Kinder kein “normales” Essen essen weil ich denke das ist ungesund und sie werden krank?

… Kinder sich streiten weil Konflikte mir Angst machen und ich Harmonie möchte?

… Kinder alleine in einem Raum bleiben weil ich Sorge habe sie könnten sich verletzen oder nicht alles komtrollieren kann?

… sie sich hauen weil ich denke sie werden sonst später aggressive Menschen?

… sie ihren Körper gegenseitig erkunden weil ich Angst vor Grenzüberschreitungen habe?

… Kinder weinen “obwohl doch gar nichts schlimmes passiert ist” weil ich denke sie werden dann “Jammerlappen”, die wegen allem weinen.

… Kinder “Nein” sagen weil ich Angst habe sie hören nicht und könnten mir auf der Nase herumtanzen. Es wäre eine Schmach für mich wenn ich es nicht schaffe die Kontrolle zu behalten.

… in der Eingewöhnung die Mutter geht und ich diesen Abschiedsschmerz kaum aushalte.

… 

Wenn du eine für dich immer wieder auftretende herausfordernde Situation ausfindig gemacht hast, weißt du, das ist eins deiner THEMEN, die du dir genauer anschauen darfst. Schreibe sie dir auf.

Wenn du das Thema/ die Themen beobachtet und aufgeschrieben hast, kannst du dich fragen, 

  1. woher kommt diese Angst? Durfte ich bspw. meine Wut in meiner Kindheit nicht so deutlich zeigen, sollte ich lieber brav, angepasst sein und nicht stören?
  2. Ist die Angst begründet? Ist sie realistisch? Z.B. was könnte im schlimmsten Fall passieren? Wenn Kinder sich alleine in einem Raum befinden, was könnte tatsächlich passieren? Wenn die Mutter in der Eingewöhnung geht, was kann schlimmsten Falls passieren?
  3. Sicherheit gewinnen: Man kann mit KollegInnen ins Gespräch gehen und fragen wie sie eine solche Situation handhaben. Es ist auch möglich ein Fachbuch dazu zu lesen
  4. Glaubenssätze ermitteln

Glaubenssätze ermitteln und umkehren

Glaubenssätze sind innere Überzeugungen, die wir aus unserer eigenen Kindheit verinnerlicht haben. Glaubenssätze stehen uns und unserer Entfaltung unter Umständen im Weg und können unsere Beziehungsgestaltung positiv oder negativ beeinflussen

Solche inneren Glaubenssätze können z.B. folgende sein: 

  • „ich bin nicht gut genug“ 
  • „das muss ich alleine schaffen“ 
  • „nicht meckern, machen!“
  • „ein Indianer kennt keinen Schmerz“

Schreibe dir deine Glaubenssätze auf und kehre sie um. So zum Beispiel: 

  • aus “ich schaffe das nicht durch den Tag zu kommen” 
  • wird “ich schaffe das weil ich an mich glaube”
  • aus “Konflikte zwischen Kindern machen mir Angst”
  • wird “Konflikte zwischen Kindern sind gut und wichtig”
  • aus „nicht meckern, machen!“
  • wird “(mir geht es nicht gut) ich darf mir Hilfe holen” oder “ich teile meine Grenze mit”
  • aus „ein Indianer kennt keinen Schmerz“
  • wird “Kinder dürfen zeigen wenn es ihnen nicht gut geht”
  • aus “immer ruhig bleiben”
  • wird “ich darf wütend sein” “Kinder dürfen wütend sein”

Mein Glaubenssatz war: „Konflikte sind bedrohlich“. Daraus habe ich für mich gemacht: „Konflikte sind gut und wichtig“. Diesen Satz sage ich mir mehrmals täglich und kann somit entspannter mit Konflikten umgehen.

Reflexion im Team und in der Ausbildung

Eine Bewusstwerdung und Aufarbeitung tief verankerter Glaubenssätze ist noch leichter mit einem vertrauten Gegenüber oder einer VERTRAUTEN GRUPPE möglich. Alleine bleibt man in der Reflexion eher an der Oberfläche, im Bereich des Bewussten. Ein vertrautes Gegenüber oder eine vertraute Gruppe schafft es hingegen, durch Spiegeln und Feedback womöglich Themen ans Licht zu bringen, die bisher verborgen oder verschüttet im Unterbewusstsein lagen. 

Im Grunde sollte es sich der Träger, die Einrichtungsleitung und das gesamte ErzieherInnenteam zur Aufgabe machen, die Reflexion mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Es gibt Einrichtungen, die bspw. mit SUPERVISIONEN oder Teamintervisionen arbeiten. Es ist auch möglich Teamsitzungen häufiger der BIOGRAFIEARBEIT und Selbstreflexion zu widmen und FORTBILDUNGEN zum Thema Erzieherpersönlichkeit/ Selbsterfahrung zu besuchen. Die tiefgreifendste Form der Selbstreflexion ist sicherlich in einem individuellen therapeutischen Rahmen möglich.

Supervisionen und Fallbesprechungen dürfen ein FESTER BESTANDTEIL in der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen sein! Genau so wie bei Psychotherapeuten.

Abschließend muss ich sagen, es ist mir ein Rätsel, warum Therapeuten so viele Selbstreflexionsanteile in ihrer Ausbildung haben und ErzieherInnen, die mit mehreren Kindern gleichzeitig über Jahre hinweg und in stark abhängiger Form in Beziehung treten, hingegen keine. Das muss sich ändern!

Der Biografiearbeit und Selbsterfahrung kann folglich auch in der AUSBILDUNG von Erzieherinnen und Erziehern eine viel höhere Priorität eingeräumt werden als bisher. 


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