Gewalt durch pädagogische Fachkräfte – (m)ein Dilemma zwischen Hinsehen und Wegsehen

Ich sitze gerade in einer Kita, begleite eine Erzieherfachschülerin in ihrem Praxisabschnitt. Ich war bis eben mit meiner Aufmerksamkeit ganz bei ihr.

Doch dann höre ich plötzlich wie es im Nachbarraum laut wird. Ich bekomme mit, wie dreijährige Kinder angeschrien werden. Ich höre wie die Erzieherin lautstark brüllt: 

„du bist ja immer noch nicht angezogen!” “Geh da sofort von der Tür weg“ “alle anderen Kinder sind bereits angezogen und du stehst hier immernoch rum” “Das kann ja wohl nicht wahr sein” “so wird das mit der Schule aber nie was“ 

Ich zucke zusammen. Das Blut gefeiert in meinen Adern. Mein Denken verschwindet, ich erstarre innerlich.

Mir geht es sehr schlecht. Ich fühle mich klein und ohnmächtig. 

Was soll ich tun?! 

Eins ist klar, das Kind braucht Hilfe!!!!

Ich grübele, wie muss es wohl dem Kind gehen, das so beschimpft und runtergemacht wird? Wenn ich schon so erschrecke, wie hilflos, schuldig und klein muss sich das Kind erst fühlen?

Schrecklich. Ich bin empört. Mein Puls steigt.

Das Kind ist so sehr abhängig von dieser Erzieherin.

Ich selbst habe jeder Zeit die Chance zu gehen, mich zu empören und die Einrichtung zu verlassen. Und das würde ich tun, wenn ich so angeschrien werde. Ich bin der Erzieherin nicht ausgeliefert, ich kann mich schützen. Ich gehe raus und fahre nachhause.

Aber das Kind kann sich nicht schützen, es kann sich nicht wehren. Wenn es sich empört, gerät die Erzieherin vermutlich erst richtig in Rage und sein Schmerz wird vermutlich noch verstärkt. Aus Angst lässt das Kind es lieber sein.

Es kennt die Situation womöglich gar nicht anders, hat diesen Umgangston vielleicht sogar bereits als normal verinnerlicht.

ETWAS BEGINNT IN MIR ZU BRODELN. Ganz leise, tief in meinem Bauch. Keiner bekommt es mit.

ICH WILL SOFORT aufstehen, zu der Erzieherin hingehen und sie schütteln, ich würde sie am liebsten an den Schultern fassen, ihr in die Augen blicken und sagen: “Sie tun dem Kind weh” “Sie üben Gewalt aus!” Sie sorgen dafür, dass das Kind seine Selbstachtung, seinen Selbstwert, sein Selbstbewusstsein, das Vertrauen zu sich und in seine Umwelt verliert!”

ICH WÜRDE AM LIEBSTEN sofort zur Leitung laufen und wutentbrannt erzählen, welch unsagbare Dinge in ihrer Einrichtung passieren. 

ICH WÜRDE AM LIEBSTEN zu meiner Fachschülerin gehen und sagen: “so bitte niemals handeln! Auf diese Art fügst du den Kindern enormes Leid zu”

ICH WILL SOFORT zu meiner Fachschule rasen und ihr befehlen, diese Einrichtung als Kooperationseinrichtung zu kündigen

ICH WILL SOFORT, das Kind in meine Arme schließen und es trösten. Ich würde ihm gerne sagen: “du trägst keine Verantwortung, du hast keine Schuld, du bist richtig wie du bist, du darfst weinen wenn du möchtest. Deine Erzieherin wollte dir eigentlich sagen, dass sie gerne mit euch raus gehen will und ihr euch dafür anziehen sollt. Sie ist ungeduldig weil sie so gerne raus möchte und es kaum abwarten kann. Sie konnte es dir gerade nur nicht anders sagen” 

ICH WÜRDE am liebsten sofort rausrennen und in die Luft schreien: “bitte liebe Eltern, schickt eure Kinder nicht in diese Einrichtung, zu dieser Erzieherin. Sie tut euren Kindern nicht gut!”

Nun sitze ich da. Das alles passiert in meinem Kopf, in meinem Herz.

Und jetzt?

Eigentlich sollte ich genau das alles, was ich fühle, was mein Bauch mir sagt, tun, sonst ändert sich nichts!!!

Doch irgendwas in mir lässt mich am Stuhl festfrieren, schubst mein Gesicht zurück zur Auszubildenden, lenkt meinen Blick auf das vor mir liegende Formular. Irgendetwas in mir lässt mich meinen Stift wieder in die Hand nehmen und fortfahren.

Alles geht so schnell, schwupps sind die Kinder draußen im Garten, die schreckliche Erzieherin irgendwo im Nirgendwo.

Alles beim Alten, wie immer, zurück zum Alltag, beobachten, schreiben, rückmelden.

War irgendetwas? VERDRÄNGT.

“es kann nicht sein, was nicht sein darf” (Anke E. Ballmann)

Ich verlasse das Gebäude, fahre nachhause. 

SCHULD steigt in mir auf. 

Es kann doch nicht sein, dass ich solche schrecklichen Dinge sehe und das beinahe wöchentlich und ich dabei nichts unternehme, „schimpfe ich innerlich mit mir“. Ich bin doch genau diejenige, die etwas ändern kann. Ich bin tagtäglich in Krippen, Kitas und Horten. Ich habe die Verantwortung. Ich sehe die Gewalt. Ich habe es in der Hand!!! 

Diese Schuldgefühle zermürben mich. Aber was soll ich tun?

Und vor allem: was hält mich davon ab etwas zu tun?

ANGST. ANGST. ANGST. ANGST. ANGST. ANGST. ANGST. ANGST. ANGST. ANGST.

Ich habe ANGST davor, andere vor den Kopf zu stoßen

Ich habe ANGST davor, andere anzukreiden

Ich habe ANGST davor, andere zu kränken

Ich habe ANGST davor, dass andere mich beschimpfen

Ich habe ANGST davor, dass andere meine Kompetenz anzweifeln

Ich habe ANGST davor, alleine da zu stehen

Ich habe ANGST davor, enttäuscht zu werden und dass trotz meiner Mühe alles beim Alten bleibt 

Ich habe ANGST davor, dass ich in meinem Selbstwert angegriffen werde

Ich habe ANGST davor, wieder in diese Einrichtung gehen zu müssen und von allen böse Blicke zu bekommen

Ich habe ANGST davor, dass ich nicht ernst genommen werden und ich den Fehler letztlich bei mir suche: “ich bin einfach zu sensibel”

Ich habe ANGST davor, verhört zu werden

Ich habe ANGST davor, mich der Erzieherin oder gar mehreren Erzieherinnen stellen zu müssen

Ich habe vor den Konsequenzen ANGST, die mich davon abhalten, zu sagen: „das ist Gewalt und darf nicht sein!“

Ich habe ANGST vor dem was kommt.

All das kann ich doch ganz einfach vermeiden, indem ich nichts sage. Das ist in jedem Fall der einfachere und bequemere Weg. Ich gehe wieder meiner Wege, komme in eine Einrichtung und gehe wieder. Schau mir das Handeln der Fachkräfte an und gehe wieder, stumpfe mit der Zeit ab, ertrage es schon irgendwie.

Dann ändert sich nur nichts!

Und die SCHULDGEFÜHLE bleiben

Ich habe nicht verändert, was verändert werden muss!

Also lasst uns alle MUTIG sein und hinschauen, verändern was nicht sein darf. Gemeinsam können wir verändern, was bisher als „normal“ galt und doch so mies ist.


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12 Antworten auf „Gewalt durch pädagogische Fachkräfte – (m)ein Dilemma zwischen Hinsehen und Wegsehen“

  1. Genau so erging es mir auch schon ein paar Mal. Genau so!!
    Und ich habe für mich gemerkt, dass ich das nicht deckeln kann und will. Also habe ich mich an die Leitung gewandt. Passiert ist dann, dass ich zum Glück die Gruppe wechseln konnte. Für die Kinder der ehemaligen Gruppe ändert sich nichts. Sei es dem Fachkräftemangel geschuldet oder dem Umstand, dass die Leitung es selbst noch nicht wahrgenommen hat was ich beobachtet und erlebt habe.
    Es macht einen ohnmächtig und ich kann nicht mehr tun, glaube ich, als ich getan habe – meine Vorgesetzte in Kenntnis setzen.
    Ich glaube manche/einige Fachkräfte sehen es als normal an, dass Kinder solche Ansagen auch mal „brauchen“. Das macht mich hilflos und machtlos etwas zu verändern.
    In den allermeisten Köpfen herrscht ein Denken, dass Kinder die Regeln missachten auch mal „ordentlich“ darauf hingewiesen werden müssen. „Sonst lernen die es nie“.
    Ich habe schon ganz ganz oft überlegt aus meinem Beruf auszusteigen, da es mich so frustriert und belastet wie die Situation in Kitas ist. Da steh ich mit meiner liebevollen und empathischen Art fast allein auf weiter Flur :(.

    Danke für deine tolle Website und die vielen wahren Berichte und Wachrüttler. Ich versuche sie an viele Leute weiter zu verteilen, damit ein Umdenken stattfinden kann.
    Liebe Grüße

  2. Ich suche gerade Informationen zu Schutzkonzepten und Selbstverpflichtungen in der Kita. Wir wollen beides erstellen. Nun bin ich auf diesen Artikel gestoßen und werde ihn zum Einstieg in das Thema in unserer nächsten Teamsitzung vorstellen. Auch die Auszeit im Flur passt gut dazu.
    Sich damit auseinanderzusetzen ist so überaus wichtig! Wo fangen Gewalt und Übergriffgriffigkeit an?
    Vielen Dank für Ihre Impulse.

    1. Das freut mich sehr. Ja, das ist wirklich die Frage, wo fängt Gewalt an und wo hört sie auf?! Wenn man genau hinschaut, können bereits kleinste Sätze oder sogar nur eine Mimik sehr gewaltvoll sein. Es ist sinnvoll, das im Team zu diskutieren. Ich freue mich sehr, dass Sie das angehen. Falls Interesse besteht, ich habe zu dem Thema vier Podcastfolgen aufgenommen, die sich jede Fachkraft dazu anhören könnte.
      https://www.beduerfnisorientierte-kinderbetreuung.de/15-gewalt-durch-paedagogische-fachkraefte-in-der-kinderbetreuung

  3. Liebe Lea,
    Vielen vielen Dank für Deine Worte. Du hast in Deinem Artikel genau das beschrieben,was ich fühle. Als Aushilfe habe ich eine Sonderstellung in meiner Kita,bin nur wenige Stunden in der Woche dort. Und fast jedes Mal nehme ich etwas mit nach Hause,was ich nur schwer verarbeiten kann. Ich fühle mich auch immer mehr den Kindern verpflichtet,das nicht länger hinzunehmen. Ich springe zwischen den Teams und nehme nicht an den Teamsitzungen Teil,weil das für ungelernte Kräfte nicht vorgesehen ist und tue mir deshalb so schwer, Dinge bei den Kolleginnen anzusprechen. Aber ich nehme die Gewalt wahr und die Not der Kinder. Dein Podcast macht mir Mut! Ich danke Dir sehr dafür! Ich werde weiter nach einem Weg suchen, mich für die Kinderseelen stark zu machen.

  4. Mein Name ist Hannah, ich hatte so eine Liebe Lea, leider habe ich diese gewaltvolle Handlungen durch Pädagogen selber erlebt. Etwa ein halbes Jahr lang habe ich mich für die Kinder stark gemacht. Leider hatte ich null Rückhalt vom Träger und so wurde zur Freude des Teams das Thema klein geredet, vertuscht, negiert, Drumherum geredet und mir rückgemeldet ich solle doch private Dinge aus der Arbeit raushalten (es ging um Zwang zum Aufessen und meiner 13jährigen Essstörung, genau aus solchen Erfahrungen, welche ich genau einmal erwähnte. Genauso! Genauso! Wie du deine Gefühle beschreibst, habe ich mich gefühlt und genauso groß war meine Traurigkeit um die Kinder. Ich habe diese Gewalt mehrfach in verschiedenen Situationen erlebt und sie immer wieder angesprochen.(auch in Einzelgesprächen in meiner Freizeit) .Während meine direkte Chefin noch dahin gehend aufnahmefähig war, hat mein junger Kollege gar nichts verstanden bzw konnte seine Handlungen nicht reflektieren … er fing an mich zu mobben, die Kinder gegen mich zu bringen, nahm sich mehrfach aus unserer gemeinsamen Dienstzeit raus, sprach sich nicht mit mir ab, teilte mir wichtige Dinge nicht mit, machte mir Vorwürfe, redet hinter meinem Rücken mit dem gesamten Team über mich, bei jeder „Dienstberatung“ (in meiner Freizeit wohlgemerkt) wurde ich kritisiert (Die Kinder machen was sie wollen bei dir, sind viel zu laut, wir brauchen ewig um sie wieder runter zu bringen, brauchen ihren Schlaf (Schlafzwang für die Kleinen), du erzählst Unwahrheiten (den Eltern, kannst doch nicht alles plötzlich ändern, Kollege J. weint zu Hause, du willst hier Anarchy usw. Bei einer „Dienstberatung“ , als ich gerade aus dem KK wieder kam, wurde mir von der 19 jährigen pädagogischen Hilfskraft ein A4 Seite Vorwürfe zu mir aufgelistet, während Kollege J. daneben saß und immer wieder lächelnd nickte. ..Alles war so toll, bis H. kam…“ ich wurde krank, wochenlange Kopfschmerzen und Schwindelgefühle. Nach dem ich Oktober 20 deswegen im Krankenhaus war, begann ich meinen Ausstieg zu planen und verlangte einen Aufhebungsvertrag. Da raus zu kommen war sehr schwer, man kann auch als Angestellter nicht einfach gehen…jetzt, ein Jahr später bin ich soweit den Träger wegen Verletzung der Fürsorgepflicht verklagen zu wollen. Meine direkte Chefin (wir waren ein 3er Team in einer kleinen privaten Kita) wurde gegangen, der Kollege durfte unbehelligt da bleiben… den Folgen schwarzer Pädagogik. Dann komme ich in die Praxis und…
    Liebe Lea, leider habe ich diese gewaltvolle Handlungen durch Pädagogen selber erlebt. Etwa ein Dreiviertel Jahr lang habe ich mich für die Kinder stark gemacht. Leider hatte ich null Rückhalt vom Träger und so wurde zur Freude des Teams das Thema klein geredet, vertuscht, negiert, Drumherum geredet und mir rückgemeldet ich solle doch private Dinge aus der Arbeit raushalten (es ging um Zwang zum Aufessen und meiner 13jährigen Essstörung, genau aus solchen Erfahrungen, welche ich genau einmal erwähnte. Genauso! Genauso! Wie du deine Gefühle beschreibst, habe ich mich gefühlt und genauso groß war meine Traurigkeit um die Kinder. Ich habe diese Gewalt mehrfach in verschiedenen Situationen erlebt und sie immer wieder angesprochen.(auch in Einzelgesprächen in meiner Freizeit) .Während meine direkte Chefin noch dahin gehend aufnahmefähig war, hat mein junger Kollege gar nichts verstanden bzw konnte seine Handlungen nicht reflektieren … er fing an mich zu mobben, die Kinder gegen mich zu bringen, nahm sich mehrfach aus unserer gemeinsamen Dienstzeit raus, sprach sich nicht mit mir ab, teilte mir wichtige Dinge nicht mit, machte mir Vorwürfe, redet hinter meinem Rücken mit dem gesamten Team über mich, bei jeder „Dienstberatung“ (in meiner Freizeit wohlgemerkt) wurde ich kritisiert (Die Kinder machen was sie wollen bei dir, sind viel zu laut, wir brauchen ewig um sie wieder runter zu bringen, brauchen ihren Schlaf (Schlafzwang für die Kleinen), du erzählst Unwahrheiten (den Eltern, kannst doch nicht alles plötzlich ändern, Kollege J. weint zu Hause, du willst hier Anarchy usw. Bei einer „Dienstberatung“ , als ich gerade aus dem KK wieder kam, wurde mir von der 19 jährigen pädagogischen Hilfskraft ein A4 Seite Vorwürfe zu mir aufgelistet, während Kollege J. daneben saß und immer wieder lächelnd nickte. ..Alles war so toll, bis H. kam…“ ich wurde krank, wochenlange Kopfschmerzen und Schwindelgefühle. Nach dem ich Oktober 20 deswegen im Krankenhaus war, begann ich meinen Ausstieg zu planen und verlangte einen Aufhebungsvertrag. Da raus zu kommen war sehr schwer, man kann auch als Angestellter nicht einfach gehen…jetzt, ein Jahr später bin ich soweit den Träger wegen Verletzung der Fürsorgepflicht verklagen zu wollen. Meine direkte Chefin (wir waren ein 3er Team in einer kleinen privaten Kita) wurde gegangen, der Kollege durfte unbehelligt da bleiben…

    Meine Angst bleibt, mit meiner wertschätzenden, authentischen und emphatischen Art in anderen Teams ähnliches zu erleben. Das ganze System krankt, selten gibt es Ausnahmen…

  5. Ich hab’s gemacht. Hab Situationen dokumentiert und nach mehrmaligem Bitten um die Möglichkeit zur gemeinsamen Reflexion an den Träger weitergeben. Jetzt hat die Fachkraft eine anonyme Meldung beim KVJS und ich eine Anzeige bei der Polizei wegen übler Nachrede bzw versuchten Rufmordes…

      1. Die Anzeige wurde zurück genommen und ich wurde versetzt. Ich hab den Rückhalt des Trägers. Es war anstrengend, aber am Ende hat es hoffentlich den Kindern geholfen. Zum Glück gibt es jetzt das Schutzkonzept in den Kitas, auf das man sich beziehen kann. Anschreien, fest packen, isolieren, zwingen,… ist alles im roten Bereich der Schutzampel und das kann man dann klar benennen.

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