Man kann nicht alles auf den Personalschlüssel schieben – die Haltung ist entscheidend!

Ich lehne mich heute vermutlich sehr weit aus dem Fenster, vermutlich werde ich auch einen SHITSTORM auslösen. Ich möchte meine Gedanken dennoch mit euch teilen:

Ja die Situation mit dem FACHKRÄFTEMANGEL ist schlimm und ja es ist keine ausreichende pädagogische Arbeit möglich weil es viel zu viele Kinder auf viel zu wenige Fachkräfte gibt. Ich gebe euch Recht. Diese nicht zu verleugnende Tatsache möchte ich mit diesem Artikel nicht in Abrede stellen. Ich breche deshalb an dieser Stelle nochmal eine Lanze für all die hervorragenden pädagogischen Fachkräfte, die trotz mangelnder Anerkennung und wirklich harter Arbeit für unsere Kinder da sind. VIELEN DANK DAFÜR!

Dauer Argument Personalschlüssel

Dennoch muss ich sagen, dieses DAUER-ARGUMENT “Personalschlüssel” geht mir mittlerweile gehörig auf die Nerven. Alle Probleme, Missstände und Unannehmlichkeiten der Kinderbetreuung werden auf den Personalschlüssel geschoben. 

“es würden nicht so viele Missstände auftreten wenn der Personalschlüssel besser wäre”

“Die Qualiät wäre besser, wenn der Personalschlüssel besser wäre”

“man könnte mehr bedürfnisorientiert arbeiten wenn man mehr Personal hätte” usw.

Das mag auch in weiten Teilen stimmen und manche Qualitätsbereiche leiden sicherlich auch darunter.

Der Personalschlüssel ist nur ein Teil der Wahrheit

Meines Erachtens ist der Personalschlüssel allerdings nur ein Teil der WAHRHEIT!

Es wird dabei ein ganz entscheidender Faktor außer Acht gelassen: es sind Menschen, die in den Einrichtungen arbeiten, die alle mit ihrer eignen Geschichte, mit ihrer eigenen tief verankerten meist unbewussten Vorstellung von Erziehung mit den Kindern in Kontakt treten. Es sind Menschen, die ihr eigenes INNERES KIND (https://www.psychomeda.de/lexikon/inneres-kind.html) unbewusst mit in die sozialen Interaktionen nehmen.

Aus der Bindungsforschung ist bekannt, dass wir immer in STRESSIGEN Situationen auf unsere tief verankerten Handlungsstrategien zurückgreifen. Diese Strategien haben sich in der Kindheit aufgebaut und festgelegt. In der Bindungsforschung spricht man auch vom INNEREN ARBEITSMODELL (Grossmann & Grossmann, 2004). In den meisten Fällen können wir Menschen dann nur sehr schwer darauf zurückgreifen, was wir in der Ausbildung gelernt, was wir an Fachwissen gewonnen oder uns fest vorgenommen haben. Lest dazu auch meinen Artikel „Warum sich pädagogische Fachkräfte mit ihren eigenen Kindheitserfahrungen, Beziehungsmustern und Glaubenssätzen auseinandersetzen sollten?“

Entscheidend ist die innere Haltung zum Kind

Die innere HALTUNG zum Kind wird maßgeblich durch die eigene Kindheit geprägt. Wenn eine Fachkraft beispielsweise tief verankert den Glaubenssatz mit sich trägt: “Kinder wollen mich ärgern, wollen Situationen austesten, mich herausfordern, mir auf der Nase herumtanzen” gehe ich in Momenten der Überforderung anders mit Kindern um, als wenn ich in mir trage: “Kinder sind kompetente Wesen, die mich als Begleitung brauchen um ihre eigenen Lernziele zu verfolgen, Kinder geben in jedem Moment das Beste, was sie können und sind an Kooperation interessiert.

und die Feinfühligkeit

Ob ein Kind bei einer Fachkraft gut aufgehoben ist (Prozessqualität), bemisst sich auch daran, ob sie sich auf das Kind und seine Bedürfnisse FEINFÜHLIG und RESPONSIV (Remsperger, R., 2011) einstellen kann. Wenn in konfliktreichen Situationen (die es auch gibt, wenn der Personalschlüssel gut ist) eigene innere traumatische Erfahrungen oder Konflikte unbewusst zu Tage treten und sich in der Interaktion mit dem Kind Bahn brechen, kann auch ein besserer Personalschlüssel nur wenig daran ändern. 

BEISPIEL: Eine Fachkraft trägt tiefsitzende Verletzungen hinsichtlich des Gefühls “Wut” unbewusst in sich. Sie hat in ihrem früheren Leben die Erfahrung gemacht, wenn ich wütend bin, werde ich in mein Zimmer geschickt und meine Eltern schimpfen mit mir. Wenn das der Alltag ist, hat sie für’s Leben gelernt, dass sie Wut lieber nicht mehr zeigen sollte. Sie hatte keine positiven Folgen für sie. Sie schließt Wutgefühle folglich für sich ins Unbewusste weg – verdrängt sie. In Konfliktsituationen mit Kindern wird sie allerdings immer wieder mit der Wut, der Wut der Kinder konfrontiert. Im Durchschnitt kann man sagen, dass sicherlich mindestens einmal pro Tag eine Situation auftritt, in der Kinder wütend sind (trotzig), eher häufiger. Jedes Mal wird sie mit ihrer eigenen unverarbeiteten Wut und ihren Glaubenssätzen diesbezüglich konfrontiert. Sie wird unsicher, ohnmächtig, bekommt Angst und reagiert folglich vermutlich wenig feinfühlig auf die Kinder. 

Dass der Personalschlüssel erstaunlich wenig mit der Interaktion der Fachkräfte mit den Kindern zu tun hat, zeigt auch die Wissenschaft. Die neuen OECD Berichte zeigen das (www.oecd.org).

Im SWR2 Forum haben die drei renommierte Fachleute Prof. Dr. Sabine Andresen, Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll und Prof. Dr. Remo H. Largo über das Thema „Kita-Stress“ diskutiert und ebenso meine Annahme bestätigt:

„es hängt erstaunlich wenig an diesen Rahmenbedingungen, sondern es hängt an den sozial emotionalen Fähigkeiten der Bezugserzieherin, gute feinfühlige Interaktionen zu den Kindern aufzunehmen. Also wir wissen, dass die Verdopplung des Personals kaum etwas an der Interaktion zwischen Erzieherinnen und Kindern im Sinne Feinfühligkeit, individuelle Zuwendung, emotionaler Regulation, guter Lernbegleitung, Ansprache ändern würde“

Reflexionsbereitschaft eher bei feinfühligen Fachkräften

Ein guter Personalschlüssel kann dazu beitragen, dass die stressigen, überfordernden Situationen nicht so häufig vorkommen, die Persönlichkeitsmerkmale einer Fachkraft werden sich aber nicht so schnell ändern. Fachwissen und Fortbildungen sind natürlich eine Stütze und können Reflexionen anstoßen. Das innere Kind zu verändern braucht allerdings Zeit, eine große Portion Offenheit, Reflexionsbereitschaft und VERÄNDERUNGSWILLE. Denn eine innere Veränderung kann unter Umständen auch sehr schmerzvoll sein.

Eine solche REFLEXIONSBEREITSCHAFT erlebe ich (subjektive Beobachtung!) meistens jedoch bei den Fachkräften, die sowieso schon feinfühlig sind und sich gut auf die Bedürfnisse der Kinder einstellen können. Feinfühlige Fachkräfte sind meist auch diejenigen, die sich auf Reflexionsübungen freuen und der Auseinandersetzung mit dem Selbst etwas positives abgewinnen können.

Meine Erfahrung aus der beruflichen Praxis ist, dass Fachkräfte, bei denen es mir kalt den Rücken runter läuft, wenn sie mir von ihren Erziehungsvorstellungen berichten, genau diejenigen sind, die auch Reflexion und Veränderung weitestgehend ablehnen. „Läuft doch alles“, “das haben wir schon immer so gemacht”, “mir hat es auch nicht geschadet”. Jedes Mal wenn ich diese Sätze höre, denke ich, “wie tief die Verletzungen sein müssen, dass Reflexion und Veränderung eine so vehemente Ablehnung erfährt  

Was ist die Lösung?

Mein Ziel ist es nicht mit dem Finger auf Fachkräfte zu zeigen. Mein Ziel ist es, die Bedeutung der Reflexion eigener Wesensanteile für Fachkräfte deutlich zu machen, um so die Feinfühligkeit sowie die Prozessqualität in den Einrichtungen zu erhöhen.

Eine LÖSUNG habe ich auch nicht. Denn was soll man tun, wir haben viel zu wenige Fachkräfte und brauchen händeringend neue. Wir haben nicht genug Fachschullehrer, nur zum Teil kompetente Fachschullehrer und ein Curriculum, das eine falsche Priorität in der ErzieherInnenausbildung setzt. Der Fokus müsste viel mehr auf BIOGRAFIEARBEIT, Selbsterfahrung und Selbstreflexion gelegt werden.

Liebe Grüße, Lea

Grossmann K. E. & Grossmann, K. (2004): Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Remsperger, R. (2011): Sensitive Responsivität. Zur Qualität pädagogischen Handelns im Kindergarten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.


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4 Antworten auf „Man kann nicht alles auf den Personalschlüssel schieben – die Haltung ist entscheidend!“

  1. Hallo Lea,
    ich denke auch , dass sehr viel von der Haltung der Erzieher* in abhängt…..was sie/ er für sich selbst tut …..wie sorgsam er/sie mit sich selbst umgeht .
    Ich kenne auch studiertes Fachpersonal. Dieses verfügt in der Regel über ein umfangreicheres Fachwissen jedoch mit weniger Praxisbezug direkt nach dem Studium.
    Jedoch habe ich auch bei diesem Fachpersonenkreis nicht immer ein Verhalten erlebt dass auf mehr Fachwissen und Professionalität schließen lässt.

    Martina

    1. Liebe Martina,
      das stimmt. Die persönliche und reflexive Kompetenz und der Grad der Feinfühligkeit ist unabhängig der Ausbildung zu betrachten. Ich würde sogar behaupten, manche Quereinsteiger sind wesentlich feinfühliger und kindzugewandter als KindheitspädagogInnen oder ErzieherInnen. Letztlich hängt es davon ab, wie wir selbst aufgewachsen sind und welche Betreuungsbiografie wir haben.
      Liebe Grüße von Lea

  2. Liebe Lea,
    ich habe jetzt lange über deinen Beitrag nachgedacht. Nach einem längeren Burnout kam ich während meiner Therapie mit meinem inneren Kind in Kontakt. Wenn ich mir nun vorstelle, dass ErzieherInnen sich auch mit ihrem inneren Kind auseinandersetzen sollen, so muss das ja auch fachmännisch begleitet werden. Nur ein Buch zu lesen und danach in die Handlung zu kommen, ist meiner Meinung nach auch nicht unbedingt gesund. So vieles kann dabei schief gehen.
    Zur Problematik, dass die Feinfühligkeit den Kindern gegenüber gering(er) ist, liegt auch in meinen Augen nicht unbedingt am Personalschlüssel. Ich war jahrelang Gruppenleiterin in verschiedenen Kitas. Anfangs sehr gerne, letztlich absolut ungerne. Ich war ständig überfordert. Nicht wegen den Kindern, nein, es war eher der ganze Bürokratismus, die fast täglichen Informationen per Brief für die Eltern oder einen Teil der Eltern. Kaum Zeit für Vorbereitung/Nachbereitung oder gar ausführliche Elterngespräche. Die Leitung selbst heillos überfordert, weil sie viel von ihrem Job versteht und eigentlich super ist, leider aber nicht NEIN sagen kann, wenn ihr vom Träger mal wieder für eine andere Einrichtung noch mehr Arbeit aufgetragen wird.
    Heute bin ich „nur“ Zweitkraft und bereue die Entscheidung mich als solche neu zu bewerben, absolut nicht! Klar unterstütze ich meine Gruppenleitung. Aber ich kann jetzt endlich so arbeiten, wie ich es immer wollte. Ich konzentriere mich auf jedes der (noch) 17 Kinder. Anstatt irgendeinen Bericht mal wieder schreiben zu müssen, spiele ich mit den Kindern, fördere sie, gehe auf meine Trotzköpfchen individuell ein und bändige erfolgreich unbändige Gruppenausreisser. Und ich beobachte, dass die Kinder gerne zu uns kommen.
    Ich bin mir sicher, dass viele meiner KollegInnen mir zustimmen, wenn ich zu weniger Bürokratie in den Kitas aufrufe. Und dabei ist es herzlich egal, ob die KollegInnen studiert haben, ErzieherInnen sind oder KinderpflegerInnen! Wir brauchen nicht mehr Personal, wir brauchen mehr Zeit fürs Kind!

    1. Ja unbedingt, ich bin ganz bei dir 😉
      Das stimmt, für eine wirkliche Auseinandersetzung mit sich selbst braucht es einen therapeutischen Rahmen. Eine Therapie können und wollen allerdings nicht alle ErzieherInnen machen, deshalb empfinde ich Reflexionsantöße als sinnvoller als keine Reflexion. Was meinst du?
      Herzliche Grüße, Lea

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