Warum sich pädagogische Fachkräfte mit ihren eigenen Kindheitserfahrungen, Beziehungsmustern und Glaubenssätzen auseinandersetzen sollten

Ich frage mich seit geraumer Zeit, warum Psychotherapeuten viel mehr verpflichtende Selbsterfahrungsanteile in ihrer Arbeit und ihrer Ausbildung haben als ErzieherInnen. Eigentlich haben sie doch eine ähnliche Aufgabe wie Psychotherapeuten: sie begleiten Menschen dabei ihre Gefühle und Bedürfnisse zu verstehen, mit ihren Gefühlen umzugehen, Handlungsstrategien zu entwickeln, die sozial akzeptiert sind und das alles zu wesentlich schlechteren Konditionen als Psychotherapeuten.

Warum Therapeuten Selbsterfahrung brauchen

Psychotherapeuten sind in ihrer Ausbildung dazu verpflichtet sich selbst und ihr Schattenkind (Stahl, 2019) in den Blick zu nehmen, zu reflektieren und für sich anzunehmen. Selbsterfahrung und Supervision sind ein wesentlicher Teil ihrer Ausbildung und umfassen insgesamt ca. 270 Stunden (https://www.psychologie-studieren.de/ausbildungen/psychologischer-psychotherapeut/). Inhalte sind unter anderem der Blick in die eigene Lebensgeschichte, Emotionale Kompetenzen, Selbstwert, Tod, Trauer, Abschied.

Der GRUND für diese angeordnete Auseinandersetzung mit dem Selbst ist, dass ohne eine Aufarbeitung ungesunde Beziehungsmuster, unbewusste traumatische Erfahrungen und Glaubenssätzen in die Therapeuten-Klienten Beziehung getragen werden können. Bestimmte Klienten, Konflikte oder Gefühle wie Wut, Ärger oder Scham können – falls sie nicht aufgearbeitet und integriert wurden – den Therapeuten triggern und ihn in eine hilflose Situation bringen. Die daraus resultierende Unsicherheit oder Ohnmacht des Therapeuten kann dazu führen, dass dem Klienten nicht nur nicht geholfen, sondern geschadet werden kann.

Der Therapeut VERSTRICKT sich dann in die Beziehungsangelegenheiten des Klienten. Er vermag es folglich kaum ihm zu helfen sich zu beruhigen, die Lage aus einer anderen Perspektive zu sehen, ihm eine Regulationsstütze zu sein oder seine Gefühle in realistischer Weise zu betrachten. Es wird für ihn demnach schwer, die Gefühle des Klienten zu spiegeln weil ihn seine eigenen Gefühle überschwemmen oder sie nur noch verschwommen und konfus erlebt werden können. Der Kontakt, die Verbindung zum Klienten bricht schließlich für diesen Moment ab und es kann keine emotionale Unterstützung von Seiten des Therapeuten mehr gewährleistet werden.

Pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen führen ähnliche Aufgaben durch wie Psychotherapeuten

ErzieherInnen haben im Grunde die GLEICHEN AUFGABEN wie Psychotherapeuten. In den Kindertageseinrichtungen begeben sich Erwachsene in vertrauensvolle Beziehungen mit Menschen, um ihnen eine Stütze zu sein, ihre Gefühle, Bedürfnisse, Anliegen wahrzunehmen, zu begreifen und gemeinsam mit ihnen Handlungsstrategien zu entwickeln, die sozial angemessen und für ihr eigenes Seelenheil am gesündesten sind.

Fachkräfte sind der Anker, der HAFEN, der Fels in der Brandung, die Hilfestellung, der Ort des Trostes und der Motivation. Genau das sind auch die Aufgaben eines Therapeuten mit seinem Klienten. 

Es gibt allerdings einen gravierenden UNTERSCHIED: Pädagogische Fachkräfte begleiten nicht nur einen Menschen darin mit seinen Gefühlen umzugehen, sondern gleich mehrere auf einmal. Zudem sind Kinder in weiten Teilen von Erwachsenen und der Beziehung zu ihnen abhängig, sie können für gewöhnlich nicht aus der Beziehung aussteigen wie es ein Klient jeder Zeit könnte. Kinder haben keine Möglichkeit zu entscheiden, ob sie in der Kita bleiben oder nicht. 

Schlechte Rahmenbedingungen führen zu mehr Stress

Durch schlechte Rahmenbedingungen in Kindertageseinrichtungen kommt für die pädagogischen Fachkräfte die Erschwernis hinzu, dass Beziehungsarbeit SELTEN in RUHE, mit Muße, mit dem Fokus auf nur ein Kind möglich ist. Meist müssen sich PädagogInnen auf mehrere Kinder gleichzeitig konzentrieren, Lautstärke, Stress, Zeitdruck und Überforderung aushalten. Therapeuten hingegen haben meistens viel Zeit, können sich auf einen Klienten konzentrieren, der auch noch freiwillig zu ihnen in Beratung kommt. 

Das heißt, pädagogische Fachkräfte haben ÄHNLICHE AUFGABEN wie Psychotherapeuten, nur sie handeln zusätzlich unter enormem Druck und unter weitaus widrigeren Umständen

In stressigen Momenten greifen wir auf basale Verhaltensmuster zurück

Aus der Bindungsforschung ist bekannt, dass wir in stressigen Momenten am ehesten auf unsere innersten, bekanntesten Handlungsstrategien zurückgreifen (Fonagy/ Target, 2003), auch wenn wir rational gesehen diese Handlung nie gut heißen würden. Unter Druck handeln wir folglich so wie wir es viele Jahre in unserer Kindheit gelernt haben obwohl wir rational gesehen unter fachlichen Gesichtspunkten niemals so handeln würden. Stressige Momente bringen uns dazu, auf das unmittelbarste, bekannteste Verhaltensrepertoire zurückzugreifen. Das zeigt auch die Hirnforschung: in Angst besetzten Situationen reagiert unser Emotionalgehirn mit Flucht, Kampf oder totstellen. Das rationale Gehirn ist während dessen gänzlich ausgeschaltet (https://www.wopalm.com/stressreaktion/)

Gewalterfahrungen werden weiter getragen

Aus der Bindungsforschung weiß man auch, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass ungünstige Beziehungsmuster (unsicher vermeidend, unsicher ambivalent, desorganisiert oder Bindungsstörungen) in der Interaktion mit Kindern auf sie ÜBERTRAGEN werde, also mit hoher Wahrscheinlichkeit transgenerational weitergegeben werden (Kißgen/ Suess 2005).

Die GEWALTFORSCHUNG zeigt ebenso, dass Menschen mit Gewalterfahrungen aus der eigenen Kindheit eine erhöhte Gewaltbereitschaft in neuen Beziehungen zeigen (Hohmann, 2018).

Das bedeutet, eine pädagogische Fachkraft trägt ihre unbewussten Erfahrungen, Einstellungen zu Kindern, ihre Beziehungserfahrungen, Konflikterfahrungen und tief verankerten Glaubenssätze – ebenso wie ein Therapeut – mit in die Interaktionen mit den Kindern. Sie haben somit einen unmittelbaren Einfluss darauf, welche Beziehungserfahrungen ein Kind macht, welche Glaubenssätze es entwickelt und welche Handlungsstrategien es in Konflikten entwickeln kann.

Reflexion eigener Anteile ist die Grundlage pädagogischer Arbeit

Es ist also unabdingbar, dass jede Fachkraft sich mit sich und ihren inneren Überzeugungen auseinandersetzt. Je nach Umfang und Dauer der Betreuung eines Kindes hat sie einen unmittelbaren Einfluss auf die Beziehungsmuster der Kinder. Denn innere Muster lassen sich – so Kißgen und Suess durch tiefgreifende Reflexionen aufarbeiten und verändern (2005). 

Wie kann ich mich reflektieren?

Wie kann es nun gelingen, das eigene Schattenkind (Stahl, 2019) zu ergründen? Es gibt einige Möglichkeiten. Ich schlage hier beispielhaft zwei Möglichkeiten vor:

Beobachten eigener Themen

nimm dir vor dich ganz genau im Alltag zu BEOBACHTEN. Achte darauf, in welchen Situationen werde ich unsicher, wann werde ich wütend und was macht mir Angst. Spüre in jeder Situation bewusst in dich hinein. Was triggert mich, wann fühle ich mich gar ohnmächtig? 

bekomme ich z.B. Angst, wenn …

… Kinder zu viel essen weil ich denke sie werden zu dick?

… Kinder kein “normales” Essen essen weil ich denke das ist ungesund und sie werden krank?

… Kinder sich streiten weil Konflikte mir Angst machen und ich Harmonie möchte?

… Kinder alleine in einem Raum bleiben weil ich Sorge habe sie könnten sich verletzen oder nicht alles komtrollieren kann?

… sie sich hauen weil ich denke sie werden sonst später aggressive Menschen?

… sie ihren Körper gegenseitig erkunden weil ich Angst vor Grenzüberschreitungen habe?

… Kinder weinen “obwohl doch gar nichts schlimmes passiert ist” weil ich denke sie werden dann “Jammerlappen”, die wegen allem weinen.

… Kinder “Nein” sagen weil ich Angst habe sie hören nicht und könnten mir auf der Nase herumtanzen. Es wäre eine Schmach für mich wenn ich es nicht schaffe die Kontrolle zu behalten.

… in der Eingewöhnung die Mutter geht und ich diesen Abschiedsschmerz kaum aushalte.

… 

Wenn du eine für dich immer wieder auftretende herausfordernde Situation ausfindig gemacht hast, weißt du, das ist eins deiner THEMEN, die du dir genauer anschauen darfst. Schreibe sie dir auf.

Wenn du das Thema/ die Themen beobachtet und aufgeschrieben hast, kannst du dich fragen, 

  1. woher kommt diese Angst? Durfte ich bspw. meine Wut in meiner Kindheit nicht so deutlich zeigen, sollte ich lieber brav, angepasst sein und nicht stören?
  2. Ist die Angst begründet? Ist sie realistisch? Z.B. was könnte im schlimmsten Fall passieren? Wenn Kinder sich alleine in einem Raum befinden, was könnte tatsächlich passieren? Wenn die Mutter in der Eingewöhnung geht, was kann schlimmsten Falls passieren?
  3. Sicherheit gewinnen: Man kann mit KollegInnen ins Gespräch gehen und fragen wie sie eine solche Situation handhaben. Es ist auch möglich ein Fachbuch dazu zu lesen
  4. Glaubenssätze ermitteln

Glaubenssätze ermitteln und umkehren

Glaubenssätze sind innere Überzeugungen, die wir aus unserer eigenen Kindheit verinnerlicht haben. Glaubenssätze stehen uns und unserer Entfaltung unter Umständen im Weg und können unsere Beziehungsgestaltung positiv oder negativ beeinflussen

Solche inneren Glaubenssätze können z.B. folgende sein: 

  • „ich bin nicht gut genug“ 
  • „das muss ich alleine schaffen“ 
  • „nicht meckern, machen!“
  • „ein Indianer kennt keinen Schmerz“

Schreibe dir deine Glaubenssätze auf und kehre sie um. So zum Beispiel: 

  • aus “ich schaffe das nicht durch den Tag zu kommen” 
  • wird “ich schaffe das weil ich an mich glaube”
  • aus “Konflikte zwischen Kindern machen mir Angst”
  • wird “Konflikte zwischen Kindern sind gut und wichtig”
  • aus „nicht meckern, machen!“
  • wird “(mir geht es nicht gut) ich darf mir Hilfe holen” oder “ich teile meine Grenze mit”
  • aus „ein Indianer kennt keinen Schmerz“
  • wird “Kinder dürfen zeigen wenn es ihnen nicht gut geht”
  • aus “immer ruhig bleiben”
  • wird “ich darf wütend sein” “Kinder dürfen wütend sein”

Mein Glaubenssatz war: „Konflikte sind bedrohlich“. Daraus habe ich für mich gemacht: „Konflikte sind gut und wichtig“. Diesen Satz sage ich mir mehrmals täglich und kann somit entspannter mit Konflikten umgehen.

Reflexion im Team und in der Ausbildung

Eine Bewusstwerdung und Aufarbeitung tief verankerter Glaubenssätze ist noch leichter mit einem vertrauten Gegenüber oder einer VERTRAUTEN GRUPPE möglich. Alleine bleibt man in der Reflexion eher an der Oberfläche, im Bereich des Bewussten. Ein vertrautes Gegenüber oder eine vertraute Gruppe schafft es hingegen, durch Spiegeln und Feedback womöglich Themen ans Licht zu bringen, die bisher verborgen oder verschüttet im Unterbewusstsein lagen. 

Im Grunde sollte es sich der Träger, die Einrichtungsleitung und das gesamte ErzieherInnenteam zur Aufgabe machen, die Reflexion mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Es gibt Einrichtungen, die bspw. mit SUPERVISIONEN oder Teamintervisionen arbeiten. Es ist auch möglich Teamsitzungen häufiger der BIOGRAFIEARBEIT und Selbstreflexion zu widmen und FORTBILDUNGEN zum Thema Erzieherpersönlichkeit/ Selbsterfahrung zu besuchen. Die tiefgreifendste Form der Selbstreflexion ist sicherlich in einem individuellen therapeutischen Rahmen möglich.

Supervisionen und Fallbesprechungen dürfen ein FESTER BESTANDTEIL in der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen sein! Genau so wie bei Psychotherapeuten.

Abschließend muss ich sagen, es ist mir ein Rätsel, warum Therapeuten so viele Selbstreflexionsanteile in ihrer Ausbildung haben und ErzieherInnen, die mit mehreren Kindern gleichzeitig über Jahre hinweg und in stark abhängiger Form in Beziehung treten, hingegen keine. Das muss sich ändern!

Der Biografiearbeit und Selbsterfahrung kann folglich auch in der AUSBILDUNG von Erzieherinnen und Erziehern eine viel höhere Priorität eingeräumt werden als bisher. 


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„Wart ihr auch immer brav?“ – was brav sein für Kinder bedeutet

In sicherlich mehr als 30 000 Kindertagesenrichtungen wurden Kinder in den letzten Wochen auf den WEIHNACHTSMANN vorbereitet. Kinderaugen begannen zu strahlen und ein Gefühl von Freude, etwas Geheimnisvollem und ein klein wenig Anspannung hat sich eingestellt. Und dann war da noch dieser Satz, den die ErzieherInnen immer wieder sagten: „wenn ihr lieb seid, kommt der Weihnachtsmann und bringt euch viele Geschenke“. Dann war der große Tag da, es gab eine kleine Weihnachtsfeier und der Weihnachtsmann (bei vielen vielleicht auch das Christkind) kam herein mit einem großen Sack voller Geschenke. Ein Gemisch aus Anspannung, Vorfreude und ein wenig Angst ist in den Augen mancher Kinder zu sehen. Und da ist er wieder dieser Satz: „und wart ihr auch immer brav?“ Die Kinder nicken „artig“ und hoffen nur, dass sie bald ihre Geschenke auspacken dürfen.

Was bedeutet es brav zu sein?

Aber was bedeutet eigentlich „LIEB sein“? Was bedeutet denn „BRAV sein“? Was bedeutet eigentlich „ARTIG sein“? Was meint der Weihnachtsmann damit? Was meinen die Erwachsenen damit?

Selbst für mich als erwachsene Frau ist es ziemlich schwer zu DEFINIEREN, was „lieb sein“ oder „brav sein“ denn meint. Wie schwer muss es für ein Kind wohl erst sein, zu begreifen, was die Erwachsenen von ihnen verlangen, wenn sie artig sein sollen.

Wenn man nach dem Begriff „brav“ im Internet sucht findet man bspw. die folgende Definition: „sich so verhaltend, wie es die Erwachsenen erwarten oder wünschen; gehorsam; artig“. Als Synonyme dafür werden die Wörter „artig“, „folgsam“, „fügsam“, „gefügig“ „gehorsam“, „gesittet“ angebracht. Das hört sich irgendwie nicht schön an.

Ich versuche nun mal ein paar VERMUTUNGEN anzustellen, was sich Erwachsene vorstellen, wenn Kinder lieb/ brav/ artig sein sollen. Vielleicht bedeutet es in den Augen der Erwachsenen , dass Kinder …

  • hören und nicht widersprechen sollen
  • nur positive Gefühle und keine negativen (wie Wut oder Ärger) Gefühle zeigen sollen (keine Trotzanfälle)
  • alle von ihnen verlangten Aufgaben ohne Murren erfüllen, also funktionieren sollen
  • dem Tagesablauf (Spielen, Essen, Schlafen, raus gehen usw.) entsprechend der Vorstellung der Erwachsenen folgen sollen.
  • keine Handgreiflichkeiten, Aggressionen oder sonstiges sozial unangemessenes Verhalten zeigen sollen

Ich vermute, wenn Kinder diesen aufgezählten ERWARTUNGEN entsprechen, sind sie „artige, liebe Kinder“ und die Erwachsenen sind zufrieden.

mit braven Kindern ist alles einfacher

Warum wollen viele Erwachsene eigentlich liebe und brave Kinder? Womöglich weil es einfacher ist, weil es weniger aufreibend ist, weil es besser FUNKTIONIERT, weil es weniger Konflikte gibt. Natürlich wäre alles einfacher wenn alle Kinder gehorchen, nur fröhlich, zufrieden sind und sie sich einfügen.

Auswirkungen des brav Seins auf die Kinder

Welche Auswirkungen kann es nun haben, wenn Kinder brav sein sollen und alles dafür tun, die Geschenke zu bekommen.

  1. Zunächst sind die Kinder durch diesen Satz einem enormen DRUCK und einer UNSICHERHEIT ausgesetzt. Sie wissen nicht „was bedeutet denn lieb/brav sein überhaupt?“. „ich muss etwas erfüllen, bei dem ich nicht genau weiß, was gemeint ist. Wie muss ich mich denn nun genau verhalten?“ Die Begriffe „lieb/brav/ artig bleiben unspezifisch und sind für Kinder nicht unmittelbar umsetzbar.
  2. KEINE NEGATIVEN GEFÜHLE wie Wut und Ärger zu zeigen ist ziemlich schwer, nahezu unmöglich. Negative Gefühle sind ein natürlicher Teil unserer Gefühlspalette. Wir können sie nicht weg rationalisieren oder unterdrücken. Insbesondere Kindergartenkinder können ihre Gefühlsimpulse noch nicht ausreichend kontrollieren und zurück halten. Wenn wir ehrlich sind, können das viele Erwachsene auch nicht (anschreien, Türen knallen). Allzu oft verlangen wir von Kindern alle negativen Impulse zu unterdrücken, schaffen es meistens jedoch selbst nicht. Negative Gefühle sind da und lassen sich allenfalls verdrängen. Folglich ist diese Erwartung keine negativen Gefühle zu zeigen erfüllbar.
  3. Wenn Kinder immer nur das tun, was von ihnen verlangt wird, VERLEUGNEN sie ihre eigenen BEDÜRFNISSE. Denn das Bedürfnis eines Kindes wird nur sehr selten genau dem Bedürfnis der Fachkräfte entsprechen. Über kurz oder lang kollidieren diese beiden Bedürfnisse und es entsteht ein Konflikt. Bedeutet es nun, da das Kind lautstark seine Position vertritt und einen Konflikt mit verursacht, dass es nicht „lieb“ oder „brav“ ist? Kinder, die widersprechen sind zwar nicht lieb aber sie stehen selbstbewusst für ihre Bedürfnisse ein und das sind doch Eigenschaften, die sich die meisten für unsere Kinder wünschen. Widersprechen bedeutet also, dass sie für sich und ihre Bedürfnisse einstehen.
  4. Wenn man vom POSITIVEN MENSCHENBILD Carl Rogers und Marshall Rosenbergs ausgeht, so versucht jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt das beste Verhalten zu zeigen, das ihm möglich ist. Das bedeutet, wenn ein Kind aggressive oder sonstige sozial unangemessene Verhaltensweisen zeigt, macht es das nicht mit böser Absicht, um Jemanden zu verletzen, sondern weil ihm zu dem Zeitpunkt keine anderen Mittel zur Verfügung stehen. Es handelt aus seinem Impuls heraus und hat keine andere Methode, um Konflikte friedvoll zu klären. Diese Kinder brauchen Unterstützung und Zuwendung. Sie zu bestrafen weil sie nicht „lieb“ sind, wäre verheerend und würde das unpassende Verhalten eher stärken.
  5. Kinder, die dauerhaft genau die Aufgaben erfüllen, die Erwachsene von ihnen verlangen, haben nur wenig Chance ihre eigenen individuellen Lern- und ENTWICKLUNGSAUFGABEN zu verfolgen. Wenn sie ständig Aufgaben der Erwachsenen erfüllen sollen (etwas bestimmtes basteln o.ä.) fehlen ihnen die tiefgreifenden Spielmomente, die ihnen ein Flow-Erleben ermöglichen, bei dem sie tatsächlich lernen. Alle Aufgaben, die Erwachsenen von Kindern verlangen (Anziehen, Aufräumen, Hygiene…) sind meist Bedürfnisse der Fachkräfte und nicht der Kinder. Wenn sie lieb sind und nur die Erwartungen der Fachkräfte erfüllen, verfolgen sie also nicht ihre eigenen Interessen sondern nur die der Erwachsenen.
  6. Kinder, die brav folgsam den TAGESABLAUF der Fachkräfte einhalten, tun dies um sich anzupassen und keinen Ärger zu machen. Es ist kaum vorstellbar, dass alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt hungrig oder müde sind, raus gehen oder spielen wollen. Wenn ein Kind sich gegen das Schlafen, gegen das Essen auflehnt und folglich wenig „lieb/brav“ reagiert, ist das eigentlich sein gutes Recht!

„brav sein“ als kaum erfüllbare Erwartung

Wenn ich es also genau bedenke, ist brav, lieb und artig sein ganz schön schwer zu erfüllen. Eigentlich müsste man sagen, es ist kaum erfüllbar. Kinder wären Maschinen, die funktionieren, Aufgaben erfüllen, Gefühle verdrängen, sich ausschließlich äußeren Erwartungen anpassen und sich weit von sich selbst entfernen. Also ein großer Preis für ein paar Geschenke.

Ein neuer Weihnachtsmann?

All das sollte nicht das Ziel der Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen und auch nicht Ziel des Weihnachtsmanns sein. Ich finde, ab nächstem Jahr sollte es einen neuen Weihnachsmann geben. Ein Weihnachtsmann, der fragt:

„durftet ihr immer für euch einstehen?“ Durftet ihr alle eure Gefühle zeigen auch wenn ihr traurig, wütend, ärgerlich wart?“

„Durftet ihr Regeln hinterfragen, die für euch unpassend erschienen?“

„durftet ihr eure Grenzen wahren?“

„durftet ihr eure Bedürfnisse zeigen und habt sie erfüllt bekommen?“

… dann habt ihr euch selbst ein Geschenk gemacht: ein selbstbestimmtes, authentisches und glückliches Leben!


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“NEIN” sagen (dürfen)! Wie Kinder lernen sich abzugrenzen

ich habe vor kurzem ein tolles Zitat gelesen. Leider habe ich vergessen woher es stammt. Es lautete in etwa so: 

wir gehen ständig über die Grenzen der Kinder. Gleichzeitig versuchen wir ihnen beizubringen, dass sie ihre Grenzen wahren sollen

Das ist doch wirklich absurd. Oder?

ZUERST fordern wir Kinder dazu auf, 

… sich zu entschuldigen obwohl sie keine Schuld tragen

… aufzuessen obwohl sie satt sind

… zu probieren obwohl sie sich ekeln

… zu schlafen obwohl sie nicht müde sind

… Fachkräfte zu umarmen obwohl es ihnen unangenehm ist

… Spielsachen zu teilen obwohl sie sehr wichtig für ihr Spiel sind

… immer im Sichtfeld zu bleiben obwohl sie sich Ruhe wünschen

… mit einem bestimmten Kind zu spielen obwohl sie nicht mit diesem Kind spielen wollen

… zu grüßen obwohl es ihnen vielleicht unangenehm ist

… mit Kosenamen zu rufen obwohl sie das nicht mögen

… über ihre Köpfe zu streicheln obwohl sie es nicht mögen

… an ihren Wangen zu kneifen obwohl sie es nicht mögen

wir manipulieren Kinder, nehmen ihre Gefühle und Bedürfnisse oft nicht ernst, übergehen sie und sprechen ihnen ihre Gefühle ab (“da muss man doch keine Angst haben”, “jetzt hab dich nicht so”). Alles in allem gehen wir also – oft unbewusst – immer wieder sowohl über die physischen als auch die psychischen GRENZEN der Kinder hinweg. 

UND GLEICHZEITIG wollen wir, dass Kinder

… alle Grenzen der anderen Kinder wahren

… nie die Grenzen der Erwachsenen überschreiten 

… lernen NEIN oder Stopp zu sagen

… an Anti-Aggressionsprogrammen teilnehmen

… usw.

Ist es nicht ein enormer innerer Konflikt, wenn ich die GRENZEN der anderen wahren soll, ich jedoch ständig selbst erlebe, wie über meine eigenen Grenzen hinweggegangen wird?!

Das NEIN der Kinder akzeptieren

Nur wenn wir ein NEIN der Kinder akzeptieren, lernen sie auch, dass sie IHRE GRENZEN wahren und vertreten dürfen. Wir sollten deshalb die NEINs der Kinder wahrnehmen, akzeptieren, respektieren und tolerieren.

NEINs drücken sich bei Kindern entsprechend ihres Temperaments in unterschiedlicher Form und Klarheit aus: 

  • sie sagen verbal „NEIN
  • sie schütteln (verschüchtert) den Kopf
  • sie schauen weg
  • ziehen sich in sich zurück
  • werden wütend
  • schreien
  • schubsen weg

Es gibt also vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten des NEINs und wir Erwachsene sind in der Verantwortung diese NEINs zu deuten.

Wenn ein Kind sagt, es möchte nicht probieren, sollten wir das NEIN akzeptieren und nicht noch 10 mal nachfragen, ob es nicht doch probieren möchte. Wenn ein Kind alleine auf Toilette gehen möchte, sollten wir das respektieren, wenn ein Kind nicht den Weihnachtsmann basteln möchte weil es momentan für sich sinnvollere Aufgaben hat, sollten wir das NEIN respektieren. Wenn ein Kind von einer bestimmten Fachkraft nicht ausgezogen werden will, sollten wir das respektieren ohne es persönlich zu nehmen. Ich könnte solche Beispiele endlos fortsetzen (kennt ihr noch Beispiele?)

Nur wenn wir dem Kind mit der HALTUNG gegenübertreten, ein NEIN ist in Ordnung, spürt es auch: “ich darf NEIN sagen”. Sehr feinfühlige Kinder merken sehr bald, bei welcher Fachkraft ein NEIN in Ordnung ist und bei welcher Fachkraft man lieber JA anstatt NEIN sagen sollte.

JA sagen wo NEIN gemeint war

Genau an diesem Punkt, wenn Kinder JA sagen müssen, wo eigentlich ein NEIN authentisch gewesen wäre, beginnen sie jedoch ihr Innerstes zu verleugnen und ihre inneren und äußeren Grenzen verschiwimmen. Sie nehmen ihre tatsächlichen Bedürfnisse immer verschwommener wahr. 

Menschen, die auf Dauer lernen, ich sollte lieber immer JA sagen anstatt einem passenderen NEIN leben kein authentisches Leben, sie leben im außen und wenig bei sich, wenig in der eigenen Kraft. Menschen, die nicht NEIN sagen können, geben sich selbst eher auf und haben Angst vor Konflikten. Ein Dauerhaftes nicht NEIN sagen können, schlägt sich in negativer Weise langfristig auf das körperliche und seelische Wohlbefinden nieder. Es kann sogar Depressionen fördern (https://www.angst-panik-hilfe.de/angst-nein-zu-sagen.html) All das wollen wir für unsere Kinder jedoch nicht!

Fachkräfte sind Vorbilder

Neben dem Akzeptieren der NEINs der Kinder können wir gute Vorbilder für die Kinder sein. Wir können authentisch mit unseren eigenen NEINs umgehen.

Dazu bedarf es ein klares, reflektiertes Selbst. Ich brauche KLARHEIT für für das, was mir und der Kita wichtig ist. Es geht folglich um die eigenen Werte und die Werte der Einrichtung. 

  1. Bsp: Wenn ein Kind gerade Schwierigkeiten hat seine Schuhe zu finden und es fragt: “kannst du mir helfen?” Könntest du dich – je nach Fähigkeit des Kindes – sagen: “Nein, ich brauche noch Zeit um die Jacke von Pia zuzumachen. Du wirst deine Schuhe sicherlich alleine finden”. Das Kind wird evtl. frustriert sein, vielleicht schimpfen und ärgerlich auf dich sein. Gleichzeitig bekommt das Kind jedoch die Möglichkeit zu erleben, dass auch ein NEIN als Antwort möglich ist. Dabei hat es die Chance, seinen Frust zu überwinden, sich weiterzuentwickeln und doch selbstständig erfolgreich und stolz zu sein.
  2. Bsp: Ein Kind kommt zu uns und möchte mit uns spielen. Ich spüre in mich rein und merke, ich brauche noch einen Moment, um in Ruhe mein Wasser zu trinken. Ich kann sagen: “Nein, ich brauche noch 2 Minuten. Schau, wenn der große Zeiger auf der 6 ist, komme ich zu euch und dann können wir zusammen spielen”.

Was wir durch unsere NEINS bewirken

Durch unsere NEINs geben wir den Kindern die Möglichkeit 

  1. mit Frust umzugehen
  2. zu wachsen
  3. Konflikte zu üben
  4. Lösungen zu suchen
  5. Charakterstärke zu üben

Ich sage als Fachkraft NEIN um meiner selbst Willen. Das Ziel ist nicht eine erzieherische Maßnahme nach dem Motto: “Kinder brauchen Grenzen und müssen erzogen werden”. Vielmehr gehe ich achtsam und authentisch mit meinen eigenen Bedürfnissen und Grenzen um und sage NEIN. Dadurch können alle Beteiligten der Einrichtung lernen respektvoll mit den eigenen und den Grenzen der anderen umzugehen.

Fragen provozieren ein NEIN der Kinder

Durch meine Fragetechnik kann ich der Wichtigkeit des Bevorstehenden Ausdruck verleihen. Ich mache durch die Art der Frage oder der Aussage deutlich, was mir wie sehr wichtig ist. Ich kann also beeinflussen, wie viel gefühlten Spielraum es für die Kinder gibt mit „NEIN“ zu antworten. Ich stelle Fragen wenn etwas verhandelbar ist und mache Ansagen wenn etwas indiskutabel ist. Eine konkrete Ansage verleiht der bevorstehenden Aktion eine größere Bedeutung. Wenn ich sage: „wir gehen jetzt auf den Spielplatz, zieht euch alle an“ wird ganz klar nicht nach einer Diskussion gefragt.

Fragetechnik wenn ich zeigen möchte, das ist mir jetzt sehr wichtig.

  1. keine Fragen stellen z.B. „wollt ihr auf den Spielplatz gehen?“ wenn es keine Option gibt. Auf eine Frage kann man mit NEIN antworten.
  2. Keine Suggestiv-Fragen: „ihr wollt doch zum Spielplatz oder?“
  3. Eine Bitte kann abgelehnt werden „zieht euch bitte an wir gehen jetzt zum Spielplatz“. Darauf können Kinder mit NEIN antworten.
  4. Nur Sätze, die nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden können „zieht euch jetzt an!“
  5. Eine konkrete Anweisung aussprechen: Wir gehen jetzt auf den Spielplatz. Die Kinder wissen was zu tun ist und sie werden nicht überfordert.
  6. Anweisung bei Bedarf begründen „mir ist es wichtig, dass wir alle zusammen etwas machen“

Nur weil ich eine Ansage gemacht habe, heißt das nicht, dass alle Kinder mit meinem Bedürfnis einverstanden sind. Das müssen sie auch nicht. Ich habe die Wichtigkeit des Vorhabens (mein Bedürfnis) deutlich gemacht: „wir gehen alle zum Spielplatz!“. Wenn ein Kind dagegen rebelliert zeigt es: „ich bin aber nicht damit einverstanden!“ Das ist sein gutes Recht und gut, dass er seinem Bedürfnis Ausdruck verleiht. Nun steht Bedürfnis gegen Bedürfnis.

Wenn ich das NEIN des Kindes nicht akzeptieren kann

Im pädagogischen Alltag treten immer wieder Situationen auf, in denen etwas ansteht, bei dem das Kind nicht NEIN sagen kann. Es ist zum Beispiel klar, dass alle Kinder gemeinsam auf den Spielplatz gehen. Tom möchte aber nicht mit auf den Spielplatz und äußert das deutlich auf seine Art: er beginnt, Unruhe in der Garderobe zu stiften, Quatsch zu machen, Kinder zu ärgern. Er zieht sich in der Garderobe nicht an. Als alle Kinder bereits fertig angezogen sind, hat er immer noch nicht seine Schuhe angezogen. Er sagt auf seine Art NEIN ich will nicht zum Spielplatz“. Was kann ich tun?

Was kann ich konkret tun, wenn das Kind „NEIN“ sagt?

Zunächst kann ich wertschätzen, dass er mir sein Bedürfnis, nicht mit auf den Spielplatz zu wollen, mitgeteilt hat: „gut, dass du mir das sagst, sonst hätte ich gar nicht gewusst, dass du nicht mit möchtest“. Auf diese Weise lernt Tom, dass sein „NEIN“ gehört wird und eine Relevanz erfährt. Die Wertschätzung eines Wunsches bedeutet aber nicht unbedingt, dass dem Wunsch nachgekommen werden muss!

  1. Beschreibung der Situation: „ich sehe du machst hier ganz viel Quatsch und möchtest dich gar nicht anziehen“
  2. Sich einfühlen: „kann es sein dass du lieber hier im Kindergarten bleiben möchtest?“ „Bist du nicht gerne auf dem Spielplatz?“. Dabei darauf achten, welche Sätze bei ihm Anklang finden um herauszufiltern, was sein tatsächliches Anliegen ist. Ob er wirklich nicht mit möchte oder etwas anderes sein Bedürfnis ist.
  3. Gründe herauszufinden: „was magst du auf dem Spielplatz nicht?“ Vielleicht hat das Kind vor etwas Angst? Oder es friert? Oder es gibt etwas auf dem Weg dort hin, das ihm Angst macht?! Mit ihm gemeinsam Gründe herausfinden.
  4. Alternativen/Kompromisse/Lösungen mit dem Kind gemeinsam Lösungen oder Kompromisse herausfinden. z.B. kann das Kind in einer anderen Gruppe bleiben? Er kann immer an der Hand der Erzieherin bleiben wenn er Angst hat? Kinder sind oft äußerst kreativ dabei Lösungen zu finden. Vielleicht hat er selbst gute Vorschläge?! Ansonsten Ideen vorschlagen.
  5. Gefühle begleiten: wenn die Entscheidung der Fachkraft feststeht und kein Kompromiss möglich ist (das ist durchaus legitim), kann man das Kind in seinen Gefühlen (Frust/Ärger/Wut) begleiten. „Ich kann verstehen, dass du enttäuscht/sauer bist. Ich habe gleichzeitig keine andere Möglichkeit.“ Tränen dürfen sein! Dann trösten. Gewöhnlicherweise wirken Kinder wesentlich „aufgeräumter“ nachdem sie weinen und ihrem Frust Luft machen konnten.


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Man kann nicht alles auf den Personalschlüssel schieben – die Haltung ist entscheidend!

Ich lehne mich heute vermutlich sehr weit aus dem Fenster, vermutlich werde ich auch einen SHITSTORM auslösen. Ich möchte meine Gedanken dennoch mit euch teilen:

Ja die Situation mit dem FACHKRÄFTEMANGEL ist schlimm und ja es ist keine ausreichende pädagogische Arbeit möglich weil es viel zu viele Kinder auf viel zu wenige Fachkräfte gibt. Ich gebe euch Recht. Diese nicht zu verleugnende Tatsache möchte ich mit diesem Artikel nicht in Abrede stellen. Ich breche deshalb an dieser Stelle nochmal eine Lanze für all die hervorragenden pädagogischen Fachkräfte, die trotz mangelnder Anerkennung und wirklich harter Arbeit für unsere Kinder da sind. VIELEN DANK DAFÜR!

Dauer Argument Personalschlüssel

Dennoch muss ich sagen, dieses DAUER-ARGUMENT “Personalschlüssel” geht mir mittlerweile gehörig auf die Nerven. Alle Probleme, Missstände und Unannehmlichkeiten der Kinderbetreuung werden auf den Personalschlüssel geschoben. 

“es würden nicht so viele Missstände auftreten wenn der Personalschlüssel besser wäre”

“Die Qualiät wäre besser, wenn der Personalschlüssel besser wäre”

“man könnte mehr bedürfnisorientiert arbeiten wenn man mehr Personal hätte” usw.

Das mag auch in weiten Teilen stimmen und manche Qualitätsbereiche leiden sicherlich auch darunter.

Der Personalschlüssel ist nur ein Teil der Wahrheit

Meines Erachtens ist der Personalschlüssel allerdings nur ein Teil der WAHRHEIT!

Es wird dabei ein ganz entscheidender Faktor außer Acht gelassen: es sind Menschen, die in den Einrichtungen arbeiten, die alle mit ihrer eignen Geschichte, mit ihrer eigenen tief verankerten meist unbewussten Vorstellung von Erziehung mit den Kindern in Kontakt treten. Es sind Menschen, die ihr eigenes INNERES KIND (https://www.psychomeda.de/lexikon/inneres-kind.html) unbewusst mit in die sozialen Interaktionen nehmen.

Aus der Bindungsforschung ist bekannt, dass wir immer in STRESSIGEN Situationen auf unsere tief verankerten Handlungsstrategien zurückgreifen. Diese Strategien haben sich in der Kindheit aufgebaut und festgelegt. In der Bindungsforschung spricht man auch vom INNEREN ARBEITSMODELL (Grossmann & Grossmann, 2004). In den meisten Fällen können wir Menschen dann nur sehr schwer darauf zurückgreifen, was wir in der Ausbildung gelernt, was wir an Fachwissen gewonnen oder uns fest vorgenommen haben. Lest dazu auch meinen Artikel „Warum sich pädagogische Fachkräfte mit ihren eigenen Kindheitserfahrungen, Beziehungsmustern und Glaubenssätzen auseinandersetzen sollten?“

Entscheidend ist die innere Haltung zum Kind

Die innere HALTUNG zum Kind wird maßgeblich durch die eigene Kindheit geprägt. Wenn eine Fachkraft beispielsweise tief verankert den Glaubenssatz mit sich trägt: “Kinder wollen mich ärgern, wollen Situationen austesten, mich herausfordern, mir auf der Nase herumtanzen” gehe ich in Momenten der Überforderung anders mit Kindern um, als wenn ich in mir trage: “Kinder sind kompetente Wesen, die mich als Begleitung brauchen um ihre eigenen Lernziele zu verfolgen, Kinder geben in jedem Moment das Beste, was sie können und sind an Kooperation interessiert.

und die Feinfühligkeit

Ob ein Kind bei einer Fachkraft gut aufgehoben ist (Prozessqualität), bemisst sich auch daran, ob sie sich auf das Kind und seine Bedürfnisse FEINFÜHLIG und RESPONSIV (Remsperger, R., 2011) einstellen kann. Wenn in konfliktreichen Situationen (die es auch gibt, wenn der Personalschlüssel gut ist) eigene innere traumatische Erfahrungen oder Konflikte unbewusst zu Tage treten und sich in der Interaktion mit dem Kind Bahn brechen, kann auch ein besserer Personalschlüssel nur wenig daran ändern. 

BEISPIEL: Eine Fachkraft trägt tiefsitzende Verletzungen hinsichtlich des Gefühls “Wut” unbewusst in sich. Sie hat in ihrem früheren Leben die Erfahrung gemacht, wenn ich wütend bin, werde ich in mein Zimmer geschickt und meine Eltern schimpfen mit mir. Wenn das der Alltag ist, hat sie für’s Leben gelernt, dass sie Wut lieber nicht mehr zeigen sollte. Sie hatte keine positiven Folgen für sie. Sie schließt Wutgefühle folglich für sich ins Unbewusste weg – verdrängt sie. In Konfliktsituationen mit Kindern wird sie allerdings immer wieder mit der Wut, der Wut der Kinder konfrontiert. Im Durchschnitt kann man sagen, dass sicherlich mindestens einmal pro Tag eine Situation auftritt, in der Kinder wütend sind (trotzig), eher häufiger. Jedes Mal wird sie mit ihrer eigenen unverarbeiteten Wut und ihren Glaubenssätzen diesbezüglich konfrontiert. Sie wird unsicher, ohnmächtig, bekommt Angst und reagiert folglich vermutlich wenig feinfühlig auf die Kinder. 

Dass der Personalschlüssel erstaunlich wenig mit der Interaktion der Fachkräfte mit den Kindern zu tun hat, zeigt auch die Wissenschaft. Die neuen OECD Berichte zeigen das (www.oecd.org).

Im SWR2 Forum haben die drei renommierte Fachleute Prof. Dr. Sabine Andresen, Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll und Prof. Dr. Remo H. Largo über das Thema „Kita-Stress“ diskutiert und ebenso meine Annahme bestätigt:

„es hängt erstaunlich wenig an diesen Rahmenbedingungen, sondern es hängt an den sozial emotionalen Fähigkeiten der Bezugserzieherin, gute feinfühlige Interaktionen zu den Kindern aufzunehmen. Also wir wissen, dass die Verdopplung des Personals kaum etwas an der Interaktion zwischen Erzieherinnen und Kindern im Sinne Feinfühligkeit, individuelle Zuwendung, emotionaler Regulation, guter Lernbegleitung, Ansprache ändern würde“

Reflexionsbereitschaft eher bei feinfühligen Fachkräften

Ein guter Personalschlüssel kann dazu beitragen, dass die stressigen, überfordernden Situationen nicht so häufig vorkommen, die Persönlichkeitsmerkmale einer Fachkraft werden sich aber nicht so schnell ändern. Fachwissen und Fortbildungen sind natürlich eine Stütze und können Reflexionen anstoßen. Das innere Kind zu verändern braucht allerdings Zeit, eine große Portion Offenheit, Reflexionsbereitschaft und VERÄNDERUNGSWILLE. Denn eine innere Veränderung kann unter Umständen auch sehr schmerzvoll sein.

Eine solche REFLEXIONSBEREITSCHAFT erlebe ich (subjektive Beobachtung!) meistens jedoch bei den Fachkräften, die sowieso schon feinfühlig sind und sich gut auf die Bedürfnisse der Kinder einstellen können. Feinfühlige Fachkräfte sind meist auch diejenigen, die sich auf Reflexionsübungen freuen und der Auseinandersetzung mit dem Selbst etwas positives abgewinnen können.

Meine Erfahrung aus der beruflichen Praxis ist, dass Fachkräfte, bei denen es mir kalt den Rücken runter läuft, wenn sie mir von ihren Erziehungsvorstellungen berichten, genau diejenigen sind, die auch Reflexion und Veränderung weitestgehend ablehnen. „Läuft doch alles“, “das haben wir schon immer so gemacht”, “mir hat es auch nicht geschadet”. Jedes Mal wenn ich diese Sätze höre, denke ich, “wie tief die Verletzungen sein müssen, dass Reflexion und Veränderung eine so vehemente Ablehnung erfährt  

Was ist die Lösung?

Mein Ziel ist es nicht mit dem Finger auf Fachkräfte zu zeigen. Mein Ziel ist es, die Bedeutung der Reflexion eigener Wesensanteile für Fachkräfte deutlich zu machen, um so die Feinfühligkeit sowie die Prozessqualität in den Einrichtungen zu erhöhen.

Eine LÖSUNG habe ich auch nicht. Denn was soll man tun, wir haben viel zu wenige Fachkräfte und brauchen händeringend neue. Wir haben nicht genug Fachschullehrer, nur zum Teil kompetente Fachschullehrer und ein Curriculum, das eine falsche Priorität in der ErzieherInnenausbildung setzt. Der Fokus müsste viel mehr auf BIOGRAFIEARBEIT, Selbsterfahrung und Selbstreflexion gelegt werden.

Liebe Grüße, Lea

Grossmann K. E. & Grossmann, K. (2004): Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Remsperger, R. (2011): Sensitive Responsivität. Zur Qualität pädagogischen Handelns im Kindergarten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.


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Probier- oder Kostehappen- NEIN danke!

Wer kennt ihn nicht den allbekannten Koste-, Probierlöffel oder Probierhappen. Viele Fachkräfte wollen, dass Kinder “zumindest mal probieren” auch wenn das Kind NEIN sagt und keinen Spinat, keinen Salat, kein Fleisch o.ä. essen möchten.

Viele Fachkräfte erhoffen sich davon, dass das Kind gesünder isst oder auch durch das Probieren Gefallen an diesem Essen findet. Das Gegenteil ist der Fall!

Stellt euch mal vor, ihr hättet euer allerliebstes Mittagessen vor euch stehen – ihr habt so richtig Lust darauf. Jetzt kommt Jemand und schöpft euch (evtl. sogar ohne euch zu fragen) einen Klecks von dem ungeliebten Essen mit auf den gleichen Teller. Würde euch da nicht auch die Lust auf das Lieblingsessen vergehen? Würde nicht sogar ein Ekel aufkommen, der euch das ganze Essen vermiest?!Für die Zukunft würde das für mich vielleicht sogar bedeuten, ich mag das ungeliebte Essen noch weniger. Es könnte sogar sein, dass für mich die Essenssituation im Kindergarten auf Dauer einen negativen Beigeschmack hat – mir die Essenslust vergangen ist.

Sollte es nicht das ZIEL im Kindergarten sein, die Freude und Lust am Essen bei den Kindern zu erhalten? Sollte es nicht das Ziel sein, ein gesundes Verhältnis zum Essen zu bewahren? Ich halte es für sehr wichtig, den Kindern die Kompetenz zuzusprechen, für sich selbst am besten entscheiden zu können, was ihnen kulinarisch gut tut und was nicht. Es sollte ihnen selbst überlassen bleiben, wann sie etwas probieren möchten und wann nicht.

Druck von außen führt eher dazu, sich von dem ungeliebten Lebensmittel fern zu halten oder sogar sein ganzes Leben zu verabscheuen.

Meine Erzieherfachschüler antworten meistens auf diese Annahme mit: “stimmt, das was ich damals essen sollte, mag ich noch heute nicht!”

Kennt ihr das auch? Wie geht ihr in der Praxis mit dem Probieren um?


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„Wo möchte ich schlafen (ruhen)?“ Mögliche Kriterien der Kinder bei der Wahl des Schlafplatzes (Ruheplatz)

Ich möchte euch heute von einem “GOOD PRACTISE”- Fall zum Thema MITTAGSRUHE berichten. Ich habe eine Kita besucht, die es den Kindern im Alter zwischen 3 bis 7 Jahren freistellt, wo sie ihre Mittagsruhe verbringen möchten. Es handelt sich um eine relativ große Einrichtung mit über 150 Kindern. Es gibt drei Räume, die zur Mittagsruhe zur Auswahl stehen:

  1. RAUM: ist so gestaltet, dass Kinder dort “richtig” einschlafen können, also dunkel, gemütlich, Kojen, Körbe, Sterne an der Decke usw.
  2. RAUM: ist als Snoezelraum mit Dämmerlicht eingerichtet. Dort wird ein Hörbuch gehört, alle verhalten sich ruhig und kuscheln sich in Matratzen, Decken, Kissen etc.
  3. RAUM: ist ein “wach”-Raum. Dort können sich die Kinder aufhalten, welche leise etwas malen, basteln, spielen oder Bücher anschauen wollen. Dieser Raum ist also gut geeignet für Kinder, die das ruhig Liegen nicht mögen.

Was ich schön finde ist, dass die Kinder durch dieses Konzept neben der Raumwahl auch die Wahl haben, mit WELCHER BEZUGSPERSON sie zusammen sein möchten. Sie können also mindestens zwischen drei Fachkräften wählen, bei denen sie sich wohl fühlen und ihre Mittagsruhe verbringen wollen. Es gibt dabei mehrere Kriterien, die die Kinder unbewusst bei ihrer Wahl im Fokus haben könnten:

  1. entsprechend der “Artgerecht-Idee”: nur da wo ich mich sicher fühle, kann ich mich entspannen.
  2. ich gehe nur da hin, wo ich gekrault/ gestreichelt werde
  3. ich gehe da hin, wo das schönste Ruheritual durchführt wird
  4. ich gehe da hin, wo die Fachkraft ist, die am schönsten vorliest
  5. Ich gehe da hin, wo man sich am besten um mich kümmert
  6. Ich gehe dahin, wo die mir sympathischste Fachkraft ist

Das könnte natürlich auch zur Herausforderung werden weil die Kinder sich womöglich nicht entsprechend ihres Schlafbedürfnis den Raum aussuchen, sondern danach, bei welcher Fachkraft sie sein wollen. Das Bedürfnis der Nähe zur Fachkraft wäre in dem Fall größer als Ruhen/ Schlafen. Das wäre völlig in Ordnung weil das Kind das Bedürfnis für sich erfüllt, was am ehesten befriedigt werden muss um sein inneres Gleichgewicht wieder herzustellen nämlich Bindung/Beziehung zur Fachkraft anstatt Schlaf. Blöd ist es nur, wenn das Kind sehr müde ist aber sich die bevorzugte Fachkraft im Wachraum befindet. Wichtig finde ich, dass man diese Wahlkriterien der Kinder im Hinterkopf behält.
Keinesfalls sollten die Kinder für ihre WAHL vorwurfsvoll VERANTWORTLICH gemacht werden auf die Art: “warum hast du dir diesen Raum ausgesucht wenn du gar nicht schläfst?” Damit werden SCHULDGEFÜHLE hervorgerufen.
Die Kinder agieren immer im Sinne ihrer ungestillten Bedürfnisse. Es gibt dabei einen unbewussten ANTRIEB hinter der Wahl des Ruhebereichs: ich möchte…… nicht ruhig liegen,… mit meinem Freund zusammen bleiben… bei Erzieherin Susi sein… in dem Raum mit der Mondlampe liegen… ein bestimmtes Brettspiel spielen… mit dem Kuscheltier “Hans” schmusen… am Fenster liegen… mich in der Höhle zurückziehen
Es gibt sicherlich noch viele weitere Kriterien, die die Wahl des Ruhebereichs beeinflussen. Kennt ihr noch welche?


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“Das macht man doch nicht” – aggressives Spiel unter Kindern

Kennt ihr diese Situation? Ein fünfjähriger Junge rammt mit dem Laufrad ein zweijähriges Mädchen auf einem Dreirad. Das Mädchen wird bei jedem Aufprall durchgeschüttelt. Es lacht dabei immer wieder laut auf. Eine Fachkraft schimpft mit dem größeren Kind und ermahnt es damit aufzuhören “das macht man nicht Tim”. Der Junge schaut erschrocken zur Erzieherin, dreht sich nach kurzer Zeit wieder um und rammt das Kind erneut. Nun läuft die Fachkraft mit wütendem Schritt auf den Jungen zu und nimmt ihm forsch das Laufrad weg. Tim steht etwas betröppelt da. 

Was ist passiert?

Die Fachkraft empfindet das Auffahren vermutlich als für sie selbst unangenehm, ihr würde das evtl. nicht gefallen, wenn sie das Kind wäre. In ihr laufen blitzschnell innere Stimmen ab, die ihr sagen: “das macht man doch nicht”. “Rammen ist unerhört”, “aggressiv”, “wenn der Junge das noch macht wenn er größer wird, bin ich vielleicht daran Schuld weil ich ihn nicht erzogen habe”. Während dieser unbewusst sorgenvollen Vermutungen, verliert sie den Blick für die tatsächlichen Bedürfnisse der Kinder und handelt schlicht aus ihrem ersten Impuls heraus, der sich ihrer naheliegendsten Handlungsstrategien bedient. Sie greift ein, “das kann ich so nicht durchgehen lassen!”.

Man kann ihr dieses Vorgehen nicht vorwerfen, denn sie hat getan, was sie tuen konnte, sie hat ihr bestes gegeben.

Zurück bleiben zwei Kinder im luftleeren Raum

Den Kindern hingegen wurde damit Unrecht getan und zwar nicht nur Tim sondern auch dem Mädchen. Beide hatten sehr viel Freude an dem Spiel und zeigten keinerlei Anzeichen, dass ihre Grenzen überschritten wurden, ganz im Gegenteil! 

  • zurück bleibt ein Junge, der vermutlich traurig ist weil er ein lustiges Spiel nicht weiter verfolgen konnte und das obwohl Lachen das Gesündeste der Welt ist.
  • zurück bleibt ein Junge, der vermutlich verwirrt ist weil er nicht versteht, warum er mit dem Rammen aufhören sollte, obwohl das Mädchen sehr viel Spaß gezeigt hatte.
  • zurück bleibt ein Junge, der vermutlich verärgert ist weil er nun sein geliebtes Laufrad weggenommen bekommen hat. Er ist zudem verwirrt, da es doch immer wieder heißt, er selbst solle nichts wegnehmen.
  • zurück bleiben zwei Kinder, die aus einem wunderbaren Spiel gerissen wurden und sich nun im luftleeren Raum bewegen. Sie sind auf der Suche nach einem neuen für sie passenden Spiel, bei dem sie etwas lernen können. Bis dahin sind sie erstmal damit beschäftigt innerlich mit ihrem Frust, ihrer Enttäuschung und ihrer Wut umzugehen.

Ich stelle mir zu der Situation noch eine Frage: wäre die Fachkraft auch eingeschritten, wenn das kleine süße Mädchen den “Raufbold” Tim gerammt hätte? Wir folgen bei sanktionierendem Verhalten oft unseren inneren Vorurteilen. “Der Junge kann das schon ab aber das kleine süße zerbrechliche Mädchen doch nicht. Ihr muss ich helfen!”

Was hätte man tun können?

  • Die Situation aus der Ferne beobachten. Die verbalen und mimischen Ausdrücke der Kinder verraten, ob ihre Grenze noch gewahrt ist.
  • Selbsteinfühlung: wie geht es mir dabei, was empfinde ich? Übertrage ich mein ungutes Gefühl auf die Kinder? Ist nur meine Grenze überschritten oder auch die der Kinder?
  • Auch unser Bedürfnis spielt in der bedürfnisorientierten Kinderbetreuung eine wichtige Rolle. Wenn ich Angst habe, sie könnten sich verletzen oder die Spielgeräte könnten dabei kaputt gehen, darf ich einschreiten. Ich könnte dann sagen: “oh ich sehe, ihr zwei wollt gerade ineinander fahren. Wisst ihr, ich habe Sorge, dass dabei die Fahrzeuge kaputt gehen. Helft mir mal, vielleicht könnt ihr noch mit etwas anderem ineinander fahren? Oder laufen?

Wir wissen schließlich nicht, was bei dem Spiel die Lernabsicht der Kinder war! Auch ein vermeindlich “aggressives” Spiel kann durchaus lustvoll für Kinder sein. Mehr als sonst sollte dabei darauf geachtet werden, dass die Grenzen aller Beteiligten gewahrt bleiben.

„Justus, achtest du bitte immer darauf, ob Greta dieses Spiel noch gefällt“


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“Bevor ihr euch streitet bekommt keiner das Spielzeug” – Umgang mit Konflikten unter Kindern

“Bevor ihr euch streitet bekommt keiner das Spielzeug”

Wer kennt diesen Satz nicht?! Er wird in Einrichtungen beinahe inflationär verwendet um Streitsituationen zwischen Kindern zu schlichten. Die Fachkraft nimmt den beteiligten Kindern daraufhin das Spielzeug aus der Hand und sieht den Konflikt als geklärt. 

Was ist jedoch mit den Kindern? Ist für sie der Konflikt auch geklärt? Was sind die FOLGEN dieses Satzes und der daraus resultierenden Handlung der Fachkraft? 

Es bleiben zwei Kinder zurück…

… die bemerken, dass Streit etwas UNANGENEHMES ist, etwas nicht gewolltes ist und, dass Streit möglichst schnell geklärt werden muss. 

… die bemerken, dass die Klärung ihres Streits nicht in ihrer MACHT steht und von außen durch einen Erwachsenen geklärt werden muss. Sie geben die Verantwortung ab.

… die die Chance verpasst haben, zu LERNEN, wie man konstruktiv streitet und eine gemeinsame Lösung herbeiführen kann

… die trotzdem noch WÜTEND und sauer aufeinander sind, die nun alleine mit ihren Gefühlen umgehen müssen. Die negativen Gefühle entladen sich vermutlich zu einem späteren Zeitpunkt z.B. wenn ein erneuter Konflikt aufkommt.

… die nicht verstehen, warum sie anderen Kindern nichts WEGNEHMEN sollen, die Fachkraft genau das aber selbst tut – ihnen das Spielzeug wegnimmt.

… die gerade noch in ein Spiel VERTIEFT waren, dass ihnen ein gutes Gefühl gab, ein Flowereleben, die allerdings nun aus ihrem Spiel gerissen sind und im luftleeren Raum ohne das wichtige Spielzeug schweben.

… die ihr eben angestrebte LERNZIEL nicht weiterverfolgen können und ein neues Spiel (Lernziel) finden müssen.

Wenn durch das Agieren der Fachkräfte immer wieder suggeriert wird, dass Konflikte SCHNELL und von AUßEN geklärt werden, wie sollen Kinder dann lernen, Konflikte konstruktiv zu lösen? Brauchen Kinder nicht eigentlich aber genau das, um in der Welt bestehen zu können?

Brauchen sie nicht eigentlich ein Gegenüber, das dabei UNTERSTÜTZT, den Konflikt zu lösen? Brauchen sie nicht eigentlich einen Partner, der vormacht, wie man gewaltfrei Lösungen finden kann? Brauchen sie nicht eigentlich Vorbilder, die ihnen zeigen, Konflikte sind gut, aushaltbar, man kann an ihnen lernen, man kann sie bewältigen und man kann Lösungen finden, die für alle Beteiligten annehmbar sind. 

Um in der WELT zu bestehen, brauchen unsere Kinder das Wissen, Konflikte kommen immer und überall vor wo Menschen aufeinandertreffen. Sie sollten erfahren, dass Konflikte normal sind, Konflikte müssen nicht schnell beendet werden, Konflikte sind bewältigbar, man muss keine Angst davor haben, Konflikte können so gelöst werden, dass keiner als Verlierer hervorgeht.

Es gibt eine STUDIE, die zeigt, dass Kinder ihr Spiel am ehesten unterbrechen, wenn Erwachsene frühzeitig in einen Konflikt eingreifen und ihn klären (Singer / Hännikäinen, 2002) Es ist also wichtig Konflikte nicht sofort zu unterbinden und sofort zu klären. Denn dadurch sendet man den Kindern die Botschaft: “Konflikte sind nicht erwünscht”. Es ist wichtig, den Kindern einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem sie selbst versuchen können den Konflikt zu lösen. Sie brauchen die Möglichkeit Erfahrungen zu sammeln, welches eigene Handeln sie weiterbringt und welches nicht. Das ist doch eigentlich eine erfreuliche Nachricht für alle Fachkräfte. Ihr könnt euch zurücknehmen.

Wenn die Kinder allerdings selbst nicht in der Lage sind ihren Streit beizulegen, kann die  Fachkraft ihre HILFE ANBIETEN. Gewöhnlicherweise wird der Bedarf an Hilfe in drei Punkten deutlich:

  • wenn die Fachkraft direkt angesprochen wird und um Hilfe gebeten wird
  • wenn ein Kind hilfesuchend durch den Raum schaut
  • wenn Kinder handgreiflich oder aggressiv werden, sollten die Fachkräfte einschreiten weil der Konflikt einerseits nicht mehr konstruktiv ausgetragen wird und andererseits die Strategie eine gesellschaftlich nicht anerkannte ist.

Lehnen alle beteiligten Kinder allerdings das Angebot der Unterstützung ab, sollte das respektiert werden (auch wenn sie handgreiflich sind). Es sollte dabei jedoch niemand Unbeteiligtes zu Schaden kommen, gestört werden oder etwas dabei kaputt gemacht werden. In diesem Fall müsste die Fachkraft auch einschreiten weil unter Umständen die Grenzen anderer nicht gewahrt werden können.

Wenn nun Hilfe benötigt wird, kann man die Situation mit den beteiligten Kindern reflektieren, das Geschehene Revue passieren lassen, die Gefühle benennen, vermitteln und moderieren. 

Wenn zwei Kinder sich z.B. um einen Ball streiten, könnte man wie folgt vorgehen: 

  1. Situation beschreiben: du wolltest den Ball haben richtig (das eine Kind)? Und du wolltest auch den Ball haben kann das sein (andere Kind)? Wenn beide zustimmen kann man zum nächsten Schritt gehen, ansonsten weiter nachfragen und dabei unterstützen die Situation zu reflektieren. Die Kinder können auch nacheinander ihre Sichtweise schildern und wir Erwachsenen moderieren.
  2. Gefühle benennen: “du hast dich wahrscheinlich sehr geärgert weil du unbedingt mitspielen wolltest oder? Nein? Du wolltest alleine mit dem Ball spielen? Verstehe”. “Und du (anderes Kind) bist sehr wütend weil Karl dir den Ball weggenommen hat oder?” “Ja…”
  3. Lösungsorientierung: “Mh, was können wir da denn jetzt machen?” Je nach Alter die Kinder in die Lösungsfindung einbeziehen. Kinder haben oft sehr kreative Ideen, wie man Konfliktsituationen lösen kann. Falls keine Ideen vorgeschlagen werden, kann man selbst Ideen vorschlagen: “vielleicht könnt ihr zusammen spielen” oder “wie wäre es wenn ich auf die Uhr schaue und erst der eine für 5 Minuten mit dem Ball spielt und dann der andere?” Wichtig ist, dass beide Parteien mit der Lösung einverstanden sind. Erst dann ist die Konflikt Besprechung beendet.

Aus dieser Art der Konfliktmoderation lernen die Kinder eine Strategie, wie sie Konflikte lösen können, die sie womöglich noch ihr ganzes Leben nutzen können.

Singer, E. / Hännikäinen, M. (2002): The teacher’s role in territorial conflicts of two to three year old children. In: Journal of
Research in Childhood, 17. S 5-18.


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Eine Auszeit als Strafe ist grenzüberschreitend

Heute geht es um ein nicht sehr erfreuliches Thema, aber eins, das mir sehr am Herzen liegt. Ich habe in meinem beruflichen Alltag bereits ein paar Mal gesehen, wie Kinder als Strafe für ein unerwünschtes Verhalten alleine in der Garderobe sitzen mussten. Die anderen Kinder haben derweil weiter im Gruppenraum gespielt oder sind als Gruppe rausgegangen. Das heißt, die betroffenen Kinder waren für einen längeren Zeitraum auf sich gestellt.

Zunächst möchte ich klar feststellen, der Ausschluss aus einer sozialen Gruppe als Bestrafung ist eine klare Grenzüberschreitung und nicht erlaubt! Der Paritätische Gesamtverband hat eine Arbeitshilfe zum Kinderschutz herausgegeben, in dem erklärt wird, dass “vor die Tür stellen” eine Form der Gewalt ist – also in der Garderobe sitzen, in eine Ecke stellen, vor die Tür stellen. Diese Art der Gewalt, nämlich der soziale Ausschluss aus einer Gruppe, steht in dieser Erklärung in der Schwere gleichrangig neben dem Zwang zum Aufessen, zum Schlafen, der verbalen Erniedrigung, Beschämung und der körperlichen Gewalt.https://www.paritaet-berlin.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/2016/September/2016_09_29_kinder-und-jugendschutz-in-einrichtungen_web.pdf

WARUM ist nun der Ausschluss aus der Kindergartengruppe für ein Kind so schlimm?

Man könnte ja sagen, das Kind sitzt doch an einem sicheren Ort, hat seine Ruhe und kann für sich spielen. Aber was in dem Kind passiert, kann auf Dauer negative Auswirkungen auf die Entwicklung und das Wohlbefinden des Kindes haben.

  • Der Ausschluss aus sozialen Gruppen fügt Kindern psychischen STRESS zu. Wir Homo Sapiens sind neurowissenschaftlich gesehen darauf gepolt, immer in der Nähe der sozialen Gruppe zu bleiben. Wenn wir früher alleine in der Wildnis unterwegs gewesen wären, hätten wir vermutlich ohne unsere Gruppe nicht lange überlebt. Es kann also ein Gefühl von verlassen sein, allein gelassen sein oder sogar ein Gefühl von Todesangst einsetzen. Das bedeutet im Gehirn massiven Stress. Und eine hohe Cortisolausschüttung im Gehirn kann auf Dauer eine chronische Cortisolüberfunktion oder eine chronische Cortisolunterfunktion hervorrufen und die Entwicklung beeinträchtigen.
  • Die BEZIEHUNG zur strafenden Fachkraft wird durch den Ausschluss aus der Gruppe erschüttert. Das Kind fühlt sich in der Umgebung der Bezugsperson nicht mehr sicher: “dieser erwachsenen Person kann ich nicht vertrauen. Sie schützt mich nicht, sondern bringt mich in Gefahr”. Ein solcher verinnerlichter Glaubenssatz kann mehrere Auswirkungen haben, z.B. dass das Kind nicht mehr in den Kindergarten gehen möchte weil es sich dort nicht sicher fühlt.
  • Wie jede andere Bestrafung ist der Ausschluss aus der Gruppe hochgradig BESCHÄMEND. In diesem Fall wird die Scham allerdings noch verstärkt. Wenn ein Kind wieder zur Gruppe zurückkommen darf, sind alle Augen auf das “Übeltäter”-Kind gerichtet. Unter Umständen kann die Beschämung beim Zurückkommen noch gravierender sein als beim Verhängen der Strafe. Eine solche Art der Beschämung kann dazu führen, dass das Selbstbild des Kindes langfristig erschüttert wird und es bei wiederkehrendem Ausschluss ein negatives Selbstbild aufbaut: “ich bin böse”. Eine solche häufig auftretende Beschämung kann traumatische Auswirkungen für das Kind bedeuten (https://www.traumaheilung.de/trauma-und-scham/)
  • Einfühlungsbeispiel: wie würden wir uns fühlen, wenn wir bei unseren Verwandten zu einer Geburtstagsfeier eingeladen wären, wir schütten ausversehen ein Glas um und unsere Mutter würde uns vor die Tür setzen, uns also von der Gesellschaft ausschließen. Es würde alles in uns erschüttern: das Vertrauen in unsere Mutter, die Unsicherheit unseren Verwandten gegenüber und das Gefühl zu uns selbst. Zurückbleiben würde eine riesengroße WUT und das Bedürfnis zu FLIEHEN.
  • Fachkräfte wollen mit ihrer bestrafenden Handlung erzielen, dass ein Kind das ungewünschte Verhalten nicht mehr zeigt. Es kann auch sein, dass der gewünschte Effekt kurzzeitig eintritt. Der Ausschluss aus der Gruppe wird das Kind allerdings eher dazu veranlassen in Widerstand zu gehen und seinem ÄRGER über die Bestrafung Luft zu machen. Solche Kinder werden dann häufig als “schwierige Kinder” betrachtet. Langfristig gesehen ist der Ausschluss aus der Gruppe also für beide Seiten ineffektiv und ungesund.
  • Die Reaktion auf die Bestrafung und der entstandene Schaden ist allerdings stark vom Temperament des Kindes abhängig. Manche Kinder würden sich z.B. eher zurückziehen und autoaggressive, depressive Anzeichen zeigen.
  • Auch die Reaktion der ELTERN zuhause spielt eine entscheidende Rolle. Nehmen die Eltern ihr Kind ernst, trösten sie oder bleibt das Kind mit seinem Kummer alleine bzw. wird noch zusätzlich bestraft für sein „böses“ Benehmen.

Meine Haltung ist klar: ganz egal, was ein Kind “anstellt”, der Ausschluss aus der Kindergartengruppe darf NIE ein Mittel der Erziehung sein!

Welche alternativen Handlungsweisen Fachkräfte anstatt einer Auszeit nutzen können, erkläre ich in dem Artikel: „5 Alternativen für eine Auszeit als Strafe“


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Bedürfnisorientiert heißt … Bedürfnisorientiert heißt nicht…

Bedürfnisorientiert heißt…

  • sich ganz auf die Bedürfnisse der Kinder einzustellen
  • Die Grenzen der Kinder zu wahren
  • die Bedürfnisse der Kinder ernst zu nehmen
  • Kinder in Entscheidungen mit einbeziehen
  • feinfühlig „Beschwerden“ von Kindern wahrzunehmen
  • Vertrauen aufzubauen

Bedürfnisorientiert heißt NICHT…

  • Kindern alle Wünsche zu erfüllen
  • Kindern alle Wünsche sofort zu erfüllen
  • Kindern alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen
  • Konflikte zu umgehen
  • Kindern jeglichen Ärger und Frust zu ersparen
  • eigene Bedürfnisse zu übergehen
  • eigene Bedürfnisse zu leugnen
  • eigene Bedürfnisse zu verdrängen
  • eigene Grenzen zu übergehen
  • nie NEIN zu sagen

Bedürfnisorientiert bedeutet VIEL MEHR

  • auch NEIN zu sagen!
  • Bedürfnisse von Kindern UND Fachkräften wahrzunehmen
  • Grenzen von Kindern UND Fachkräften wahrzunehmen
  • Bedürfnisse von Kindern UND Fachkräften ernst zu nehmen
  • Grenzen von Kindern UND Fachkräften ernst zu nehmen
  • Bedürfnisse von Kindern UND Fachkräften zu verbalisieren
  • Grenzen von Kindern UND Fachkräften zu verbalisieren

→ Bedürfnisse ALLER Beteiligten (von Kindern UND Fachkräften) gegeneinander abzuwägen

→ Kompromisse zwischen den verschiedenen Bedürfnissen ALLER zu finden

→ Empathie für die eigenen und die Bedürfnisse anderer zu entwickeln.

→ aus einer “erlernten Hilflosigkeit” in die VERANTWORTUNG zu kommen


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